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Armenische Frauen und Kinder um 1915 auf der Flucht vor der Verfolgung durch das osmanische Militär.

© Armin Wegner/picture alliance/CPA Media Co.

Völkermord an den osmanischen Christen: Lautes Schweigen zum Genozid

Über den Völkermord an osmanischen Christen wird kaum gelehrt und geforscht, in den Schulen kommt der Genozid nicht vor. Eine kritische Bestandsaufnahme.

Deutschland war im 20. Jahrhundert in zwei Fällen alleinverantwortlich für Völkermorde: als Kolonialmacht in Namibia (1904–1908) sowie im Zweiten Weltkrieg für die Vernichtung der europäischen Juden. Darüber hinaus war es im Ersten Weltkrieg als wichtigster Militärverbündeter des Osmanischen Reiches umfassend informierter Mitwisser der Staatsverbrechen an osmanischen Christen sowie Nutznießer armenischer Zwangsarbeit und Bankeinlagen.

Die Auseinandersetzung des Deutschen Bundestags mit dem osmanischen Genozid dauerte 17 Jahre: Im April 2000 reichte dort ein zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss armenischer, türkeistämmiger sowie deutscher Verbände und Vereine seine Petition „Es ist Zeit: Völkermord verurteilen!“ ein. International angesehene Holocaust- und Genozidforscher der USA und Israels sowie armenische Historiker unterstützten die von etwa 14 000 Einwohnern der Bundesrepublik unterzeichnete Massenpetition. Die Türkei bestreitet jedoch bis heute die Vernichtungsabsicht der osmanischen Vorgängerregierungen.

Der Bundestag hat sich zwar 2005 in einer Resolution explizit zur Mitverantwortung Deutschlands an den „Vertreibungen und Massakern“ an den osmanischen Armeniern „und anderen Christen“ bekannt, jedoch erst am 2. Juni 2016 die osmanischen Staatsverbrechen als Genozid bewertet. In seiner zweiten Resolution stellte der deutsche Gesetzgeber mit Blick auf die Bildungspolitik fest: „Heute kommt schulischer, universitärer und politischer Bildung in Deutschland die Aufgabe zu, die Aufarbeitung der Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert in den Lehrplänen und -materialien aufzugreifen und nachfolgenden Generationen zu vermitteln. Dabei kommt insbesondere den Bundesländern eine wichtige Rolle zu."

Die Türkei wurde beschwichtigt

Was ist aus dieser Erkenntnis geworden? Nur drei Monate nach Verkündigung der Resolution beschwichtigte Regierungssprecher Steffen Seibert die Türkei mit der Aussage, dass die Resolution gesetzlich unverbindlich sei. Handelte es sich also bloß um Symbolpolitik, ohne praktische Auswirkungen? Ein von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ geförderter Workshop der Menschenrechtsorganisation „Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung“ sollte im November 2017 den Stand des Schulunterrichts über Völkermord klären – und löste damit prompt eine diplomatische Krise aus.

Die Bestandsaufnahme selbst geriet ernüchternd: Nur ein knappes Drittel der 16 Länder besitzt Rahmenlehrpläne, die explizit oder implizit eine Unterrichtung des osmanischen Genozids gestatten beziehungsweise die schulische Unterrichtung über Völkermord nicht auf die Schoah beschränken. Darüber hinaus hatten die Schul-Landesinstitute zweier Länder – Brandenburg (2005) und SachsenAnhalt (2015) – optionale Handreichungen zur Unterrichtung des osmanischen Genozids veröffentlicht und Niedersachsen 2012 eine Fachtagung durchgeführt. Allerdings: Die Brandenburger Handreichung ist inzwischen vergriffen, soll aber in den Schulen nie angekommen sein.

[Die Autorin ist Philologin und Soziologin, war Mitarbeiterin am Osteuropa-Institut der Freien Universität und engagiert sich menschenrechtlich als Armenien-Koordinatorin der Gesellschaft für bedrohte Völker sowie als Vorsitzende der Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung (AGA).]

Eine im Mai 2019 in Niedersachsen von der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, dem Historischen Museum Hannover und anderen durchgeführte Veranstaltung kam zu ähnlichen Ergebnissen. In einer Umfrage der Veranstalter bei den im niedersächsischen Landtag vertretenen Parteien erwiderten die Grünen, dass sie in absehbarer Zeit keine Handlungsmöglichkeiten für die Inklusion des osmanischen Genozids in den Schulunterricht sähen. Stattdessen schlugen sie vor, das Thema in die Landeszentrale für Politische Bildung auszulagern.

Rahmenpläne für die Schulen sind nicht verbindlich

Die SPD-Fraktion Niedersachsens wollte vor dem „Hintergrund des wiedererstarkenden Nationalismus und Rechtspopulismus in Deutschland und den aktuellen Entwicklungen in der Türkei“ vor allem „die Mitschuld des deutschen Kaiserreiches am Völkermord an den Armeniern“ herausstellen. Die CDU-Fraktion hielt die Ergebnisse der Fachtagung von 2012 für ausreichend.

Selbst dort, wo Rahmenlehrpläne der Länder Schulen die Möglichkeit bieten, Völkermord komparativ oder an anderen Beispielen als der Schoah darzustellen, erfolgt dies in der Regel nicht. Als Gründe vermutete Martin Stupperich, ehemaliger Vorsitzender des niedersächsischen Geschichtslehrerverbands, bereits 2016 die fehlende Verbindlichkeit der Rahmenlehrpläne sowie den Widerstand türkischstämmiger Schüler und ihrer Eltern: „Lehrer, die sich (…) an das Thema Genozid an den Armeniern im Unterricht wagen, werden in Klassen mit einer teilweise türkischstämmigen Schülerschaft auf ein unterschiedliches Nationenverständnis stoßen. (…) Wer also den historischen Befund, es habe sich 1915 um einen Völkermord gehandelt, türkischstämmigen Schülern gegenüber feststellt, muss damit rechnen, auf massive Zurückweisung zu stoßen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht leicht, zwischen den verschiedenen Erinnerungskulturen Brücken zu bauen. (…) Diese Situation stellt Lehrerinnen und Lehrer vor ein schwer lösbares Problem.“

Die universitäre deutsche Geschichtsforschung ist der Pädagogik bisher kaum zu Hilfe gekommen. Das halbe Dutzend Dissertationen, die in Deutschland zum osmanischen Genozid verfasst wurden, stammt aus anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern. Im Unterschied zu den USA und Kanada, wo der Genozid an den Armeniern nach der Schoah das am umfassendsten beforschte Einzelbeispiel von Genozid darstellt, haben sich deutsche Historiker bisher auffällig zurückgehalten.

Tradition des Schweigens und Verschweigens

Investigative Journalisten wie Jürgen Gottschlich und Wolfgang Gust versuchten in die Forschungslücke zu springen, wobei sie vor allem die Frage der deutschen Mitverantwortung interessierte. Auch die multi- und interdisziplinäre Fachrichtung der Genozidforschung beschränkt sich in Deutschland weitgehend auf Holocaustforschung.

Eine Ausnahme bildet das Institut für Diaspora- und Genozidforschung (IDG) an der Ruhr-Universität Bochum, das sich unter anderem mit autobiografischen Erinnerungserzählungen armenischer und jüdischer Völkermordüberlebender beschäftigt. Sein armenischer Gründer und Leiter, der Sozialwissenschaftler Mihran Dabag, war Mitverfasser der Handreichungen für Brandenburg und Sachsen-Anhalt.

In Deutschland leben türkische und armenische Herkunftsgemeinschaften

Das Verhalten der deutschen Geschichtswissenschaft steht in einer langen, bis in den Ersten Weltkrieg zurückreichenden Tradition des Schweigens und Verschweigens. Für die Wissenschaft, mehr noch für die Pädagogik in der bundesdeutschen Zuwanderungsgesellschaft ist dies ein problematischer Befund. Denn geschichts- und erinnerungspolitische Akzeptanz beziehungsweise Toleranz erwachsen aus dem Wissen um Geschichte und aus der klaren Benennung von Verbrechen.

In der schulischen sowie in der außerschulischen Erwachsenenbildung liegt vermutlich das wichtigste bundesdeutsche erinnerungspolitische Handlungsfeld im Zusammenhang mit dem osmanischen Völkermord. In Deutschland, so hob es bereits die armenisch-türkisch-deutsche Petition im Jahr 2000 hervor, leben türkische und armenische Herkunftsgemeinschaften. Ihre Kinder besuchen dieselben Schulen, zusammen mit Herkunftsdeutschen und Kindern vieler anderer Ethnien und Religionen.

Aufgabe deutscher Erziehungspolitiker ist es, dafür zu sorgen, dass sie auch etwas über eine einst geteilte deutsch-türkisch-armenische Geschichte erfahren, einschließlich deren dunkler Kapitel.

Tessa Hofmann

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