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Benutzte Pipetten im Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie (Symbolbild)

© dpa/Wolfgang Kumm

Vertrauensverlust: Wie die Wissenschaft sich selbst schadet

Das Vertrauen in Forschungsergebnisse sinkt. Das ist größtenteils selbst verschuldet – die Probleme müssen jetzt angepackt werden. Ein Gastbeitrag.

Wird die Erfolgsgeschichte der Wissenschaften in der heutigen Welt durch „Eigentore“ gefährdet? Diese Frage betrifft uns alle. Wissenschaft ist weltweit ein bestimmender Faktor in allen Lebensbereichen. Sie durchdringt das Private, den Beruf, bestimmt staatliches und wirtschaftliches Handeln, die gesamte Gesellschaft.

Alle großen Themen, die uns in persönlichen Gesprächen und die Öffentlichkeit täglich beschäftigen, sind in wesentlichen Teilen auf Erfolge der Wissenschaft zurückzuführen, ob Gesundheit, längere Lebenszeit und demografischer Wandel, die digitale Revolution von Internet über Mobiltelefone bis zur künstlichen Intelligenz oder Fragen von Globalisierung und Nachhaltigkeit.

Die Chancen, die in diesen Entwicklungen liegen, werden aber nur genutzt und die Gefahren nur vermieden werden können, wenn wir die Möglichkeiten, die uns die Wissenschaft derzeit bietet, auch ausschöpfen. Und weitere Entwicklungen in der Wissenschaft kommen mit Riesenschritten auf uns zu. Um nur ein Beispiel zu nennen: Gentechnologie und Stammzellforschung werden es uns in einer absehbaren Zeitspanne sicher ermöglichen, uns gezielt als Lebewesen verändern zu können. Mit Recht wird man daher davon sprechen können, dass der Mensch von einem Objekt über ein Subjekt zum sich selbst entwerfenden Projekt geworden ist. Das wird ethisch eine große Herausforderung sein.

Erkenntnisse werden infrage gestellt - etwa durch Trump

Vor diesem Hintergrund ist es eine zentrale Frage, ob das Vertrauen in durch Wissenschaft gewonnenes Wissen verloren zu gehen droht und inwieweit die Wissenschaft selbst daran schuld ist. Zunehmend werden heute wissenschaftliche Erkenntnisse infrage gestellt. Das reicht vom Alltag bis in die große Politik. Kinder werden immer weniger geimpft, Fake News erlangen riesige Verbreitung und der mächtigste Politiker der Welt, der amerikanische Präsident, stellt wissenschaftliche Erkenntnisse über den durch menschliches Handeln verursachten Klimawandel infrage und macht dies zur Grundlage seiner Politik. Wie konnte das geschehen? Führt Wissenschaft nicht mehr zu den richtigen Erkenntnissen? Oder ist der Glaubwürdigkeitsverlust selbst verschuldet, sind es also Eigentore der Wissenschaft?

Wenn es um schlechte wissenschaftliche Praxis geht, beschäftigt sich die Wissenschaft selbst sehr verkürzt vorrangig nur mit Plagiaten oder fehlerhafter Autorenschaft. Das belegen die Anfragen, die an den Ombudsmann für die Wissenschaft der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gerichtet werden. Hier gab es laut Jahresbericht 2016 insgesamt 87 Anfragen, davon 21 Prozent Autorenschaftsfragen und elf Prozent Plagiatsfragen. Nur in acht Prozent ging es um eine inhaltliche Auseinandersetzung, betrafen Anfragen zur Datenfälschung beziehungsweise -manipulation.

Plagiate - vergleichsweise leicht lösbar

Nun geht es bei den Fragen von Plagiaten und Autorenschaft um eine notwendige eigene Hygiene der Wissenschaft, die vergleichsweise leicht lösbar ist. Wie sieht es aber mit der Zuverlässigkeit, der Qualität wissenschaftlicher Ergebnisse nach eigenen Maßstäben aus?

Eine gute Übersicht über die Qualitätsprobleme in der Medizin findet sich in einem Artikel von Cornelius Frömmel. Gemäß einer Meta-Studie aus dem Jahr 2009 geben von Wissenschaftlern der Lebenswissenschaften in Umfragen durchschnittlich zwei Prozent zu, selbst zu fälschen. Ein Drittel gibt an, bei ihren Veröffentlichungen „Tricks“ zu verwenden, und unterstellt zudem, dass zwei Drittel ihrer Kolleginnen und Kollegen „schummeln“, das heißt, Ergebnisse schönen oder – nennen wir es beim Namen – fälschen.

Die Kosten von wissenschaftlich unzureichenden Studien dürften sich sicherlich weltweit pro Jahr auf mehrere 100 Milliarden Euro belaufen. Unterschätzt wird zudem die Konsequenz unzureichender Veröffentlichung von negativen Ergebnissen, eine fatale Folge der wissenschaftlich eigentlich widersinnigen Sicht, nur positive Ergebnisse seien ein Erfolg. Hier ist viel wertvolles Wissen, dass etwas eben nicht zutrifft, für die Wissenschaft allgemein nicht verfügbar.

Zahlen falsch runden, um ein signifikantes Ergebnis zu erhalten

Dass auch simpler Betrug eine Rolle spielt und diese gefälschten „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ in der Öffentlichkeit ein großes Maß an Aufmerksamkeit erregen können, zeigt eindrucksvoll ein Beispiel aus der Sozialpsychologie. Diederik Stapel hat mehr als 50 Studien manipuliert. Die „New York Times“, die „Neue Zürcher Zeitung“, „Spiegel Online“ und „Die Zeit“ schrieben über Stapels Experimente. Dies ist offensichtlich nur die Spitze des Eisbergs. So ergab eine Umfrage unter mehr als 2100 Psychologen an amerikanischen Universitäten, dass 23 Prozent schon einmal Zahlen falsch gerundet haben, damit das Ergebnis als signifikant galt. 22 Prozent haben mit der Datenerhebung aufgehört, als das erwartete Resultat vorlag, und 43 Prozent schon einmal Daten verworfen, nachdem sie berechnet hatten, wie diese Daten das Ergebnis beeinflussen würden.

Die Wissenschaft produziert also nicht nur schlechte, sondern sogar falsche Ergebnisse, auch nach eigenen Maßstäben, in einem beträchtlichen Ausmaß. Wenn sich auch die Bevölkerung dieser Tatsache nicht im Einzelnen bewusst ist, so ist dieser Umstand nichtsdestotrotz wahrnehmbar. Meines Erachtens ist das der Hauptgrund für den Vertrauensverlust in durch Wissenschaft generiertes Wissen.

Fälschungssichere Protokolle und Laborbücher

Durch wenige, vergleichsweise einfache Maßnahmen sind erhebliche Fortschritte in der Qualitätssicherung machbar: Die verpflichtende Schulung des wissenschaftlichen Nachwuchses im wissenschaftlichen Arbeiten sollte Standard sein. Das Gleiche gilt für die regelmäßige stichprobenhafte Prüfung der statistischen Aussagekraft von Veröffentlichungen.

Die Einführung fälschungssicherer Untersuchungsprotokolle und Laborbücher und die Möglichkeit, nach einer Veröffentlichung Einsicht in die Originaldaten zu erhalten, werden davor abschrecken, die Anzahl der das Wunschergebnis störenden Labormäuse in den Hut zurückzuzaubern. Die Verpflichtung zur Veröffentlichung negativer Untersuchungsergebnisse wird davor bewahren, das Rad immer wieder neu erfinden zu müssen. In Deutschland sollte die Deutsche Forschungsgemeinschaft wenigstens ein Prozent ihres Etats für Qualitätssicherung ausgeben; das entspräche 100 bis 150 Millionen Euro jährlich.

Auch das Erwecken falscher Erwartungen durch die Wissenschaft und falsche Erwartungen an die Wissenschaft, die durch die Unkenntnis von Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft entstehen, lassen sie Vertrauen verlieren. Aus meinem Verständnis von Wissenschaft und der jahrzehntelangen Erfahrung an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik beziehungsweise Gesellschaft kann den falschen Erwartungen in beide Richtungen nur begegnet werden, wenn sich die Wissenschaft folgenden vier Herausforderungen stellt.

Wissenschaft sollte sich auch auf Deutsch erklären

Erstens: Wissenschaft hat die Pflicht, sich der Gesellschaft zu erklären und zwar in einer Sprache, die die Menschen verstehen. Ich meine hier ausdrücklich auch die deutsche Sprache. Wer, wenn nicht die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, soll heute der Gesellschaft das Orientierungswissen vermitteln, dass sie in einer globalisierten Welt mit täglich einschneidenden Veränderungen mehr braucht denn je. Die Wissenschaft wird aber nur dann die breite Bevölkerung und Politik erreichen, wenn es auch auf Deutsch geschieht. Ganz abgesehen von der kulturellen Dimension, dass die deutsche Sprache verarmt, wenn in ihr wissenschaftliche Begriffe gar nicht mehr herangebildet werden.

Jürgen Zöllner
Jürgen Zöllner

© Doris Spiekermann-Klaas

Zweitens: Die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse muss immer ihre Grenzen mitkommunizieren. Die Erkenntnis ist beschränkt durch subjektive Fragestellung und angewandte Methode. Hier ist nicht allein die Wissenschaft, sondern sind auch Medien als Transporteure und die Abnehmer wie Politik und Wirtschaft gefragt, die leicht der Versuchung der einfachen Wahrheiten und der vermeintlichen Alternativlosigkeit erliegen.

Drittens: Wissenschaftliche Erkenntnisse sind wertfrei. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können als solche keine politischen Entscheidungen treffen. Wir bewegen uns hier neben der persönlichen Eitelkeit auch auf dem schwierigen Feld der sogenannten Parteiengutachten und nicht zuletzt wieder im notwendigen Hinweis auf die Grenzen von Fragenstellung und Methode. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind grundlegend und unverzichtbar für Politik, aber zur politischen Entscheidung werden sie erst durch die wertgebundene Gewichtung und Abwägung durch Politikerinnen und Politiker. Die Diskussion im Spannungsfeld von Ökonomie und Ökologie belegt dies eindrucksvoll.

Wissenschaft führt nicht zur Wahrheit

Viertens: Wissenschaft führt nicht zur Wahrheit. Wissenschaft unterliegt dabei einer strukturellen und nicht aufhebbaren Beschränkung. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass Wissenschaft so erfolgreich ist, weil es zurzeit der beste Weg ist, sichere Erkenntnis – Wissen – zu erlangen. Dieses sichere Wissen allerdings, und das wird oft vergessen, ist ein relatives und als solches „sicher“ nur im Bewusstsein der Subjektivität der Fragestellung und der Begrenztheit der Methode. Um mit Karl Popper zu sprechen: Wissenschaftliches Wissen ist immer Vermutungswissen.

Insofern steht der Wissenschaft neben allem berechtigten Stolz auch eine Unterströmung von Demut gut zu Gesicht. Die Hauptursachen für ein sinkendes Vertrauen in durch Wissenschaft erlangtes Wissen sind meiner Überzeugung nach also zu einem großen Teil selbst verschuldet. Es sind Eigentore, die die Bedeutung der Wissenschaft in dieser Gesellschaft gefährden. Nur wenn die Wissenschaft sich entschlossen dieser Probleme annimmt, kann sie etwas für ihre eigene Stellung in der Gesellschaft tun. Sie muss es, denn ohne eine vertrauenswürdige Wissenschaft wird es keinen gesamtgesellschaftlichen Fortschritt geben.

Der Autor ist Vorstand der Stiftung Charité und war von 2006 bis 2011 Bildungs- und Wissenschaftssenator in Berlin. Sein Artikel basiert auf einem Text in dem Band „Vom Umgang mit Fakten. Antworten aus den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften“, Hrsg. Günter Blamberger, Axel Freimuth, Peter Strohschneider in Zusammenarbeit mit Karena Weduwen, Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2018.

Jürgen Zöllner

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