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Ob es nun das Covid-19-Vakzin der Biotech-Firma Modern sein wird, das in den USA oder Europa zuerst en masse verimpft werden wird, ist offen. Doch Überlegungen, wer zuerst geschützt werden sollte, gibt es bereits.

© Ted S. Warren/AP/dpa

Update

Verteiler des Vakzins: Wer soll wann gegen Covid-19 geimpft werden?

Senioren zuerst? Oder rettet man mehr vor dem Covid-19-Tod, wenn man zuerst die jungen Virusverbreiter impft? Forscher prüfen verschiedene Impfstoffstrategien.

Noch gibt es keinen Impfstoff, der nachgewiesenermaßen vor einer Infektion mit Sars-CoV-2 schützt. Dennoch soll das in Russland eigens vorzeitig zugelassene „Sputnik V“-Vakzin trotz ausstehender Tests noch in diesen Tagen an medizinisches Personal verimpft werden.
In den USA hat die zuständige Bundesbehörde, die Centers for Disease Control and Prevention, die Gesundheitsämter in den Bundesstaaten schon jetzt darüber informiert, dass sie sich darauf vorbereiten sollen, „Ende Oktober oder Anfang November 2020“ die ersten Impfdosen an bestimmte Bevölkerungsgruppen zu verteilen – etwa medizinisches und Pflegepersonal, Polizei- und Sicherheitsbeamte und Arbeiter in essenziellen Industrien wie der Nahrungsmittelproduktion.
Welche Impfstoffe das sein sollen, wird nicht spezifiziert, sie werden lediglich als Vakzin A und B bezeichnet. Es falle schwer, das nicht als das Drängen auf einen Impfstoff vor den Wahlen zu sehen, sagte die Epidemiologin Saskia Popescu der „New York Times“.

Erste Pläne mit vielen Unbekannten

Im Bundesgesundheitsministerium (BMG) ist man weitaus zurückhaltender. Dort werden „erste Elemente einer Impfkampagne vorbereitet“, antwortete die Behörde auf Medienanfragen. Eine detaillierte Strategie könne aber erst ausgearbeitet werden, wenn mehr über den Impfstoff selbst bekannt ist: etwa, ob das Vakzin mehrfach verabreicht werden muss, in welchen Mengen es wann zur Verfügung steht und wie effektiv es vor Sars-CoV-2-Infektion schützt.

Den bisherigen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission des Robert-Koch- Instituts (RKI) gemäß sieht der Plan des BMG vor, jene Bevölkerungsgruppen mit hohem Infektions- und Erkrankungsrisiko zuerst zu impfen, also medizinisches Personal und ältere Menschen mit Vorerkrankungen. Über den Zeitpunkt, wann erste Impfungen stattfinden können, lassen sich BMG und RKI nicht aus. Es wird davon ausgegangen, dass selbst wenn die laufenden Zulassungsstudien verschiedener Impfstoff- Kandidaten im November erste Resultate liefern werden, größere Impfkampagnen in der Bevölkerung allein aufgrund begrenzter Herstellungskapazitäten und logistischer Herausforderungen nicht vor Anfang 2021 stattfinden können.

Aber welches Vakzin es am Ende auch sein wird – klar ist schon jetzt, dass es anfangs zu wenig Impfdosen für den riesigen Bedarf geben wird.

Daher machen nicht allein Politiker Pläne, wie eine sinnvolle und gerechte „Priorisierung“ organisiert werden kann. Auch Forscher entwerfen Modelle, wer zuerst geimpft werden sollte und welche Bevölkerungsgruppen am ehesten warten könnten.

Keine trivialen Fragen, denn die Zielsetzungen können unterschiedlich ausfallen: Ist es die „Herdenimmunität“, die möglichst rasch erreicht werden soll, um Menschen und auch die Wirtschaft so rasch wie möglich zu schützen? Oder steht der Schutz derjenigen Risikopersonen an erster Stelle, die schwer oder gar tödlich an Covid-19 erkranken könnten?

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Vier Forscherinnen vom Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle (USA) haben nun anhand von Modellrechnungen simuliert, welche Impfstrategie am sinnvollsten erscheint, wenn das Vakzin etwa jeden zweiten Geimpften oder mehr oder weniger schützt.

Sie gingen dabei davon aus, dass Kinder weniger anfällig für Sars-CoV-2-Infektionen sind als Erwachsene zwischen 20 und 65 Jahren, während Über-65-Jährige das höchste Risiko tragen.

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Außerdem rechnen sie damit, dass sowohl die natürliche, nach einer Covid-19-Erkrankung einsetzende Immunität als auch der vom Impfstoff vermittelte Schutz vor Sars-CoV-2 mindestens ein Jahr anhält – eine reine Arbeitshypothese, denn natürlich gibt es darüber noch keine Erkenntnisse.

Zudem gehen die Forscherinnen davon aus, dass zu dem Zeitpunkt, an dem die Impfkampagne in den USA beginnt, etwa 20 Prozent der Bevölkerung bereits eine Covid-19-Infektion durchgemacht haben werden.

Ob das Anfang 2021 allerdings schon der Fall sein wird, ist völlig offen. In Deutschland etwa haben jüngsten Antikörperstudien zufolge selbst in den Orten mit vergleichsweise vielen Covid-19-Fällen bis dato weniger als zehn Prozent der Bevölkerung die Krankheit durchgemacht.

Schon ein Vakzin, das nur jeden zweiten schützt, kann die Pandemie bannen

Die Modellrechnungen von Laura Matrajt, Julie Eaton, Tiffany Leung und Elizabeth Brown, noch unbegutachtet veröffentlicht bei MedRxiv.org, ergaben, dass bereits ein Impfstoff mit einer Wirksamkeit von nur 50 Prozent hinreichend sei, um die Covid-19-Pandemie erheblich einzudämmen – vorausgesetzt, es wird zuerst medizinisches Personal und dann ein hoher Prozentsatz der übrigen Bevölkerung geimpft. Ist der Impfstoff weniger wirksam, sollten erst ältere Menschen geimpft werden, um die Zahl der Todesfälle zu verringern.

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Bei besonders wirksamen Impfstoffen hingegen sei es besser, vor allem Jüngere zuerst zu impfen, da diese häufiger als Ältere zur Virusausbreitung beitragen.

„Wenn man zum Beispiel eine Person impft, die zwar selbst nicht schwer erkrankt wäre, aber ohne Impfung zehn Personen angesteckt hätte, von denen zwei schwer erkrankt wären, ist das effektiver als wenn man eine Person impft, die zwar selbst schwer erkrankt wäre, aber vielleicht nur ein oder zwei weitere Personen angesteckt hätte, die ihrerseits dann nicht schwer erkrankt wären“, erklärt André Karch, Leiter der Klinischen Epidemiologie am Uniklinikum Münster, das Prinzip.

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Allerdings sei die Modellierung der US-Kolleginnen sehr auf die Situation in den USA zugeschnitten, weshalb die Ergebnisse nur begrenzt auf andere Länder übertragbar seien, sagt Karch. Auch sei kritisch zu hinterfragen, ob die Annahme der Forscherinnen zutrifft, dass ein Anteil von 60 Prozent an immunisierten Personen in der Bevölkerung für eine „Herdenimmunität“ ausreicht – also eine Situation, in der ein Infizierter weniger als einen anderen Menschen anstecken kann und die Pandemie so zum Stillstand kommt.

„Der tatsächliche Anteil hängt auch von den Kontaktstrukturen in den jeweiligen Bevölkerungen ab und kann theoretisch sowohl deutlich niedriger als auch höher liegen“, sagt Karch.

Je effektiver der Impfstoff, umso sinnvoller ist es, Jüngere zuerst zu impfen

Mathematische Modellierungen seien ein „wesentliches, unverzichtbares Instrument, um mögliche Wirkungen von Maßnahmen abzuschätzen“, sagt Thomas Mertens, ehemals Ärztlicher Direktor am Institut für Virologie der Uniklinik Ulm.

[Mehr zum Thema Covid-19-Impfstoffe: Diese Vakzinkandidaten werden derzeit geprüft - ein Überblick]

Aber: „Natürlich hängen solche Modelle entscheidend von der Auswahl und Qualität von verfügbaren Daten ab.“ Und da hapere es noch sehr. So seien etwa „alle Aussagen zu den hoffentlich kommenden Impfstoffen derzeit unsicher, weil wir noch zu wenig über die Immunität nach natürlicher Infektion mit Sars-CoV-2 wissen“.

Dennoch sei es wichtig, dass sich die Studie damit auseinandersetzt, welche Impfstrategie je nach Wirksamkeit des Impfstoffs am geeignetsten sei. „Der Einfluss der Impfstoff-Effektivität auf die Priorisierung ist ein wesentliches Ergebnis dieser Arbeit“, sagt Mertens.

Abwägung von Nutzen und Risiko

Es sei entscheidend, dass das bevorzugte Impfen bestimmter Bevölkerungsgruppen „mit einem klaren, transparenten Ziel erfolgt, und dass die Definition dieser Bevölkerungsgruppen auf der Basis der besten verfügbaren Evidenz nach guter wissenschaftlicher Praxis erfolgt.“

Alle Priorisierungen müssten mit dem Ziel erfolgen, Morbidität und Mortalität möglichst effektiv zu senken, und so eine möglichst sinnvolle und ‚gerechte‘ Verteilung zu erreichen.

Sei nur sehr begrenzt Impfstoff verfügbar, der aber Risikopersonen vor schwerer Erkrankung und Tod (teilweise) schützt, werde man Risikopersonen bevorzugt impfen, so Mertens: „Wenn der Impfstoff bei jüngeren Menschen (epidemiologisch) wirksam ist, aber bei älteren Risikopersonen unwirksam ist, so ändert sich das Bild.“

Am Ende beruhe jede Impfempfehlung auf einer Abwägung von Nutzen und Risiko, sagt Barbara Rath von der Vienna Vaccine Safety Initiative (ViVI) in Wien.

Zu den ethischen Grundlagen, die dabei eine Rolle spielten, gehöre auch die Frage der Gerechtigkeit, „das heißt der gerechten Verteilung von Impfstoffen an diejenigen, die am meisten davon profitieren“, und der Selbstbestimmung. Das sei in Pandemiezeiten nicht anders. „Es bleibt ein Balanceakt zwischen Individual- und Gemeinwohl.“

"Fair Priority" - eine globale Strategie zur gerechten Impfstoffverteilung

Letzteres beschränkt sich in einer Pandemie nicht auf Nationalstaaten, sondern ist ein globales Gut. Daher hat eine internationale Gruppe von Ethikern jetzt einen Plan erarbeitet, wie ein Covid-19- Impfstoff weltweit verteilt werden sollte. Im Fachblatt „Science“ legen sie zunächst dar, dass sie den Vorschlag der Weltgesundheitsorganisation WHO, die Impfstoffmengen einfach gemessen an der Bevölkerungszahl der jeweiligen Länder zu verteilen, für falsch halten.

Er beruhe auf der Fehlannahme, die Gleichberechtigung erfordere es, auch solche Länder gleichzubehandeln, die in unterschiedlichen Situationen sind. Auch Pläne, Länder zu bevorzugen, in denen der Anteil von Risikogruppen – etwa von Menschen über 65 Jahre – besonders hoch ist, halten sie für bedenklich, da ein solcher Ansatz am Ende die reicheren Länder bevorzuge. Stattdessen schlägt die Gruppe um Ezekiel Emanuel von der University of Pennsylvania ein „Fair Priority“-Modell vor, das darauf abzielt, drei Folgen der Covid-19-Pandemie einzudämmen: den Tod oder Langzeitfolgen aufgrund einer Covid-19-Erkrankung, Überlastung des Gesundheitssystems und Schäden für die Wirtschaft der Länder.

Drei Phasen mit unterschiedlichen Prioritäten

Ihr Plan sieht vor, in der ersten von drei Phasen einer fairen Impfstoffverteilung die Reduzierung von Covid-19-Toten in den Vordergrund zu stellen. In dieser Phase sollten solche Länder den Impfstoff bevorzugt bekommen, in denen pro Impfstoffdosis am meisten Menschen gerettet werden können.

In der zweiten Phase stehe das Reduzieren wirtschaftlicher und sozialer Schäden im Vordergrund und es sollten solche Länder bevorzugt werden, die pro Impfstoffdosis die größten Verluste an Prokopfeinkommen verhindern können.

In der dritten Phase sei schließlich die „Rückkehr zu voller Funktion“ das Ziel. Um die dann noch verbliebene Verbreitung der Viren zum Erliegen zu bringen, müssten jene Länder mit den höchsten Übertragungsraten priorisiert werden in der Impfstoffversorgung.

(mit smc)

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