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Komplizierte Materie. Moderne Methoden wie der Nachweis von Erbsubstanz haben die Aufklärung von Verbrechen revolutioniert.

© imago/Science Photo Library

Verbrechen vor Gericht: Mordfall mit Missverständnis

Gerichtsgutachter und Juristen reden immer wieder aneinander vorbei. Das kann brisante Folgen haben.

Der Kriminalbiologe Mark Benecke ist für seine unmissverständliche Art bekannt, die so gar nichts von Forscherallüre hat. Vor Gericht schildert er Fälle „wie eine Bildergeschichte, das können auch Zwölfjährige verstehen“, glaubt er.

Trotzdem erlebte er just, dass Juristen im Gericht ihn beinahe missverstanden. Es war der Fall eines Mordes an einem Mädchen. Die Tote hatten Kriminalbeamten mit dem Gesicht nach unten gefesselt in einem Waldstück gefunden. Benecke sollte sich zur Frage äußern, wann das Mädchen wohl gestorben war. Er fand im Leichnam die Larven des Ufertotengräbers und den Rücken übersät mit Löchern. Am Stadium der Larven konnte er den Todeszeitpunkt eingrenzen. Für den Staatsanwalt schien die Sache von da an klar: Der Täter hätte das Mädchen heimtückisch von hinten erstochen. „Nur durch zufällige Nachfragen klärte sich, dass er glaubte, die im rechtsmedizinischen Bericht beschriebenen Löcher seien von einem Messer. Sie sind aber von dem Käfer gewesen“, erzählt Benecke.

Um Haaresbreite wäre der Täter falsch verurteilt worden. Der Fall steht stellvertretend für eine gefährliche Entwicklung: Gerichte sind oft auf Sachverständige angewiesen, um komplexe Sachverhalte zu durchdringen. Juristen und Experten verstehen einander aber mitunter mehr schlecht als recht. Sie denken anders, sind in einer anderen Fachsprache zuhause und reden manchmal aneinander vorbei. Im schlimmsten Fall kommt es zu Fehlurteilen. Welches Ausmaß dieses gegenseitige Unverständnis hat, ist unklar, da systematische Erhebungen fehlen.

Gutachter vor Gericht setzen zu viel Wissen voraus

Die schwierige Verständigung zwischen Experten und Juristen hat viele Ursachen. Ohne es zu bemerken, setzen Gutachter oft Wissen voraus, das der Jurist mangels naturwissenschaftlicher Kenntnisse nicht hat. Etwa, dass Käfer Löcher in Leichen graben können. Selbst erfahrenen und gut geschulten Gutachtern kann dieser Fauxpas unterlaufen.

Der Rechtsmediziner Klaus Püschel vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat dazu beigetragen, dass Dutzende Morde aufgeklärt werden konnten. Doch als er bei einem Verkehrsunfall als Sachverständiger berufen wird, passiert es: Er schreibt, im Blut des Fahrers sei kein Kokain nachweisbar. Dagegen konnte das Labor die Substanz Benzoylecgonin nachweisen. Der Richter schließt daraus, dass der Unfall nicht vom Drogenkonsum herrühre, weil kein Kokain im Blut war. „Es ist doch bekannt, dass Benzoylecgonin ein Abbauprodukt des Kokains ist. Es verlangsamt die Reaktionen erheblich und kann dadurch Verkehrsunfälle begünstigen“, erinnert sich Püschel an seine energische Klarstellung.

Damit seine Gutachten möglichst verständlich sind, verwendet er keine lateinischen Begriffe, sondern die deutschen Ausdrücke. Allerdings ist er sich im Klaren, dass auch diese Formulierungen Fragen aufwerfen können. Statt „Pupillen“ schreibt er „Sehlöcher“. Eine Person ist „schwingungsfähig“ hält er fest, wenn diese nicht gleichmütig ist, sondern natürliche Gefühlsschwankungen hat. Andere Gutachter bleiben lieber beim Lateinischen „Neoplasma“ statt sich an die „Neubildung“ zu halten. Dabei ist beides erklärungsbedürftig. Gemeint ist neu gewachsenes Gewebe. Das kann die junge Haut auf einer Wunde sein oder ein Tumor. Aber solche Erläuterungen bedeuten Arbeit. Für den Verfasser, der sie formulieren, und für den Leser, der sie verstehen muss. Auch Denkfaulheit ist ein Fallstrick in der Kommunikation.

Fehlende Bindung - Indiz für Kindesmissbrauch

Sogar vermeintlich verständliche Begriffe können für Wirrwarr sorgen. Etwa verwenden Familienpsychologen in ihren Gutachten den Ausdruck „Bindung“. In der Alltagssprache bedeutet dieser, dass eine mehr oder minder zugewandte Beziehung zwischen zwei Menschen besteht. Doch Psychologen beschreiben damit das Verhalten des Kindes in Bezug auf die Eltern. Ist ein Kleinkind sicher an Vater und Mutter gebunden, weint es, wenn einer von beiden den Raum verlässt. Neben dieser sicheren Bindung kennen die Experten eine desorganisierte Bindung, bei der das Verhalten keinem klaren Muster folgt. Sie gilt als Indiz für Kindesmissbrauch.

Kennen Anwälte und Richter die Deutungen der Begriffe nicht, schrumpfen sie zu bloßen Worthülsen ohne Inhalt. Sie können dann ein familienpsychologisches Gutachten missverstehen. Dieses soll aber unter anderem Entscheidungsgrundlage dafür sein, bei welchem Elternteil Kinder nach einer Trennung leben.

Wie schnell scheinbar Verständliches auf taube Ohren trifft, wenn es bloß zu trocken formuliert ist, hat Benecke in diversen Prozessen erlebt. „Beim Verlesen eines DNS-Gutachtens schlafen die Leute mitunter ein“, erzählt er. „Heißt es etwa, die Übertragung einer DNS-Spur von einem Gegenstand auf den anderen finde gewöhnlich im Nanogrammbereich statt. Hier sei sie aber nur im Pikogrammbereich gemessen worden. Dann schalten alle ab, obwohl die einzelnen Wörter verständlich sind.“

Das Unverständnis zwischen Sachverständigen und Juristen ist in Studien bislang kein Thema. Vielmehr wird an der Oberfläche gekratzt, indem Forscher die Qualität der Gutachten kritisieren. Christel Salewski von der Fernuniversität Hagen bemängelte etwa die Güte von 116 familienpsychologischen Gutachten. Die Mehrzahl genügte den wissenschaftlichen Standards nicht. Die angewandten Befragungen und Tests waren in mehr als jedem dritten Gutachten höchst problematisch, befand die Psychologin. Denn diese Erhebungen erfolgten unsystematisch und ungeplant. Die entscheidende Frage, ob der Gutachter so verstanden wird, wie er es möchte, stellte sie nicht.

Gutachter bekommen zwischen 65 und 100 Euro pro Stunde

Die Sachverständigen verteidigen freilich ihren Stand. Öffentlich bestellte und vereidigte Gutachter „können sich Fehler nicht leisten“, betont Benecke, „sonst wären sie sofort ihren Job los“. Sie werden regelmäßig kontrolliert und müssen sich vor der Ausübung einer Prüfung unterziehen. Aber viele Sachverständige, die vom Gericht berufen werden, fallen nicht in diese Kategorie. Sie sind Experten von Berufswegen oder infolge ihres Amtes. Sie erfreuen sich an Stundensätzen zwischen 65 bis 100 Euro für eine Tätigkeit als Gutachter. Sie sind es gewohnt, mit Kollegen in ihrer Fachsprache zu reden und verstanden zu werden.

Vor Gericht aber tut sich ein Graben im Denken und Sprechen auf. Auch Juristen beklagen dies. Hartmut Grams hat als Anwalt jahrelang Prozesse im Bau- und im Medizinrecht geführt, ehe er in die Berliner Bezirksverwaltung wechselte. „Ich habe mit den Sachverständigen grundlegende Verständigungsprobleme erlebt. Der Ingenieur ist eher ein sprachloser Mensch, der viel voraussetzt und wenig erklärt. Für jemanden ohne Fachwissen ist es äußerst schwer, ihn zu verstehen. Der Arzt spricht auch recht wenig, vor allem verschleiert er gerne, was er nicht weiß.“

Nachdenklich stimmt in diesem Licht ein angeblicher Mord am Tegernsee. Ein Hausmeister soll eine Frau am Tegernsee bei München umgebracht haben, um die er sich seit vielen Jahren kümmerte. Er sitzt dafür zurzeit lebenslänglich in Haft. Doch der Begutachter des Leichnams, der Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos, legte in seinem mehrseitigen Gutachten dar, dass es sich nicht um Mord handeln könne. Er geht von einem Sturz aus, worauf unter anderem die Verteilung der Blutergüsse schließen lasse. Infolge des Sturzes sei die Frau dann an einem Herzversagen gestorben.

Ein Missverständnis als Ursache für ein Fehlurteil?

Gewöhnlich folgt das Gericht in solchen Verfahren dem rechtsmedizinischen Gutachten. Doch in diesem Fall ausnahmsweise nicht. Ein Missverständnis, glaubt Tsokos, der selbst nicht als Sachverständiger geladen war. Ein Kollege vertrat jedoch sein Gutachten vor Gericht. Hat dieser es nicht richtig erklärt oder konnte die Richterin ihm nicht folgen? Eine Wiederaufnahme blieb erfolglos. Tsokos ist noch immer von der Unschuld des Inhaftierten überzeugt.

Die Kommunikationsbarriere geht so weit, dass Gutachter mitunter andere Fragen beantworten, als das Gericht gestellt hat, sagt der Jurist Grams. Etwa erörtern Sachverständige, ob ein Gebäude nach aktuellem Stand der Technik errichtet ist. Maßgeblich wäre aber, ob es dem Stand der Technik zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses entspricht. Oder Mediziner behaupten auf die Frage nach einem Behandlungsfehler, dass der Patient sowieso verstorben wäre. „Das ist nicht relevant. Es reicht aus, wenn der Fehler des Arztes nur dazu beigetragen hat, dass der Kranke nicht mehr am Leben ist – Mitursächlichkeit nennen wir das“, erläutert Grams.

Um solche fundamentalen Fehler zu vermeiden, sollten die Gerichte den Sachverständigen einweisen, ehe dieser sich an die Arbeit macht. Doch häufig unterbleibt das. Aus Bequemlichkeit, Arbeitsüberlastung oder im irrigen Glauben, dies sei nicht nötig.

Selbst wenn ein Gutachten offenkundig lückenhaft ist oder fehlgeht, wird selten ein zweites eingeholt. Wenn dann noch Passagen aus dieser fragwürdigen Bewertung eins zu eins im Urteil landen, wird es sehr fragwürdig.

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