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Frei wie ein Fluss. Nur wenige große Fließgewässer fließen noch so, wie natürliche Prozesse es bewirkt haben. Und die, die es in diesem Zustand noch gibt, tun dies oft in abgelegenen Regionen, wie hier der Alec River in Alaska.

© Morgan Bond

Unnatürliche Fließgewässer: Von der Freiheit befreit sind Strom und Bäche

Wer einen wilden, großen Strom erleben will, muss heutzutage ziemlich suchen. Zwei Drittel der großen Flüsse sind verbaut und reguliert. Das hat Folgen.

Gemächlich zieht sich der Irrawaddy auf 2170 Kilometern Länge dahin. Sein wichtigster Quellfluss entspringt in Tibet, der größte Teil seiner Reise Richtung Ozean führt ihn durch Myanmar. Er durchschneidet das Land von Nord nach Süd, bevor er im Golf von Bengalen ins Meer mündet. Der Strom gilt als Lebensader des südostasiatischen Landes: Er ist Verkehrsweg und Wasserlieferant, macht das Land fruchtbar, liefert Fischern und Reisbauern an seinen Ufern die Nahrungsgrundlage. Nicht nur für Myanmar, auch weltweit betrachtet gilt der Irrawaddy als herausragend: Als weitgehend frei fließender Fluss gehört er zu den letzten seiner Art.

Dämme, Deiche und Turbinen

Nur noch gut ein Drittel der mehr als 1000 Kilometer langen Flüsse der Erde fließen auf ihrer gesamten Länge frei. Der weitaus größere Teil wird von Dämmen aufgehalten, von Deichen eingezwängt oder zum Betrieb von Wasserkraftwerken reguliert, berichtet ein internationales Forscherteam in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins «Nature» (Zusammenfassung, engl.). «Frei fließende Flüsse sind für Mensch und Umwelt gleichermaßen wichtig, aber die ökonomische Entwicklung rund um die Welt lässt sie zunehmend selten werden», sagt Günther Grill von der kanadischen McGill Universität (Montreal), einer der federführenden Wissenschaftler der Studie. Nach Ansicht der Forscher hat das weitreichende Auswirkungen auf Ökosysteme und Artenvielfalt.

Staut Wasser, produziert Energie, schafft Arbeitsplätze. Und erzeugt flussabwärts und flussaufwärts Probleme: Der Dreischluchten-Damm in Chinas Hubei-Provinz
Staut Wasser, produziert Energie, schafft Arbeitsplätze. Und erzeugt flussabwärts und flussaufwärts Probleme: Der Dreischluchten-Damm in Chinas Hubei-Provinz

© imago/Xinhua

Gemeinsam mit mehr als 30 Kollegen hatte Grill den Zustand von über 300 000 Flüssen der Erde beleuchtet. Insgesamt nahmen sie fast 12 Millionen Flusskilometer in den Blick - von kleinen Flüssen mit 10 bis 100 Kilometern Gesamtlänge bis zu den großen Strömen, die auf einer Länge von mehr als 1000 Kilometern die Erde durchziehen. Ziel war es, die sogenannte Konnektivität der Flüsse zu beurteilen, also wie frei sich das Wasser samt der darin enthaltenen Organismen, Sedimente und Nährstoffe bewegen kann. Und zwar nicht nur innerhalb des Flussbetts von Quelle in Richtung Mündung, sondern auch seitlich in die Überschwemmungsgebiete, vertikal zwischen Grund- und Flusswasser sowie in Abhängigkeit von den Jahreszeiten.

Nur noch ein Drittel, davon fast alle in abgelegenen Gebieten

Die Wissenschaftler prüften mit Hilfe von Satellitenbildern und anderen Datenquellen, wo Dämme oder Deiche die Flusswege blockieren oder der Transport von Sedimenten aufgehalten wird, wo Flusswasser abgeleitet wird oder wo Infrastrukturen wie Straßen im Uferbereich und in den Flussauen gebaut wurden.

Der Analyse zufolge sind nur noch 37 Prozent der längsten Flüsse der Welt als frei fließend zu bezeichnen. «Heute sind sie weitgehend auf abgelegene Regionen wie die Arktis, das Amazonasbecken und das Kongobecken beschränkt», erläutert Christiane Zarfl vom Zentrum für Angewandte Geowissenschaften der Universität Tübingen, die die Studie mitbetreute. «In dicht bevölkerten Erdregionen wie Nordamerika, Europa und Südasien sind nur noch wenige sehr lange Flüsse frei fließend, allen voran der Irrawaddy und der Saluen.» Letzterer ist ein Gebirgsfluss, der auf seiner 2980 Kilometer langen Strecke Tibet, China, Myanmar und Thailand durchquert.

Staudämme und die dahinterliegende Stauseen beeinflussen der Analyse zufolge die Konnektivität der Flüsse am stärksten. In der Studie berücksichtigten die Wissenschaftler allein 20 000 größere Staudämme. Insgesamt beziffern sie die Zahl der Dämme mit einer Wasserreservoir-Fläche von mindestens 1000 Quadratmetern auf 2,8 Millionen. Und ihre Zahl steigt weiter: Allein zur Wasserkraftnutzung seien derzeit 3700 größere Anlagen in Planung, berichten die Forscher.

Die Folgen für Natur und Umwelt würden häufig nicht ausreichend berücksichtigt. «Flüsse sind der Lebensnerv unseres Planeten», sagt Michele Thieme von der Umweltschutzorganisation WWF, die an der Studie beteiligt war. «Sie stellen verschiedene Leistungen zur Verfügung, die oftmals übersehen und unterbewertet werden. Die erste Karte der verbleibenden frei fließenden Flüsse der Welt wird Entscheidungsträgern dabei helfen, den vollen Wert, den Flüsse für Mensch und Natur haben, zu priorisieren und zu schützen.»

Damm landeinwärts, Probleme an der Küste

«Der Mensch dominiert heute die Natur in einem Ausmaß wie das noch vor wenigen Jahrzehnten nicht vorstellbar war», sagt Martin Pusch von der Abteilung Ökosystemforschung am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). «Damit geht eine riesige Verantwortung einher, der wir gerecht werden müssen.»

Der Forscher, der an der aktuellen Studie nicht beteiligt war, verdeutlicht am Beispiel der chinesischen Drei-Schluchten-Talsperre, welche Folgen die Regulierung von Flüssen für die Umwelt haben kann. Der 2012 abschließend fertiggestellte und stark umstrittene Mammut-Bau staut den Jangtsekiang, den drittgrößten Fluss der Erde. Der Stausee erstreckt sich auf mehr als 600 Kilometern Länge durch die Drei-Schluchten-Region.

Der Damm verhindere den Weitertransport von Sedimenten mit dem Flusswasser, erläutert Pusch. Eine Folge sei, dass das äußerst dicht besiedelte Mündungsgebiet bei Schanghai nun stärker durch den Anstieg des Meeresspiegels infolge des Klimawandels bedroht sei. «Darüber hinaus hat der Bau dazu geführt, dass mehrere der wichtigsten Fischarten Chinas im unteren Jangtsekiang quasi ausgerottet wurden.» Die dort lebenden, traditionell gefischten Karpfenarten benötigten eine Wassertemperatur von etwa 25 Grad zur Vermehrung. Dadurch, dass das Wasser des Stausees aus der Tiefe abgelassen wird, werde diese Temperatur nicht mehr erreicht, die Bestände seien um 99 Prozent eingebrochen.

Der Chinesische Stör, der nur noch dort vorkommt, brauche hingegen niedrige Temperaturen, wenn er im Winter laicht. Für ihn sei das abgelassene Wasser dann zu warm. «Das hätte sich verhindern lassen, wenn man eine Möglichkeit geschaffen hätte, das Wasser aus unterschiedlichen Bereichen des Stausees abzulassen», sagt Pusch. «Das hätte nur wenig mehr Geld gekostet.»

Weniger Strand-Sand

Ein weiteres Ergebnis der aktuellen Studie: Nur noch 21 der 91 längsten Flüsse (23 Prozent) mit einer direkten Verbindung zwischen Quelle und Ozean fließen ungestört. Auch diese sind vornehmlich in der Arktis, einigen Regionen Südostasien sowie Teilen Afrikas südlich der Sahara und Südamerikas zu finden. Der abgeschnittene Kontakt der langen Flüsse mit dem Meer sei besonders besorgniserregend, da dies den Austausch von Wasser, Nährstoffen, Sedimenten und von Arten in den Flussmündungen, den Überschwemmungsgebieten und den Ozeanen beeinträchtige, schreiben die Wissenschaftler.

«Blockiert man durch Stauanlagen den Sedimenttransport, erreicht der Sand die Flussmündungen nicht mehr», erläutert der IGB-Forscher Pusch. «Das ist ein wichtiger Grund für den Sandmangel, den es an vielen Stränden der Welt seit einigen Jahrzehnten gibt.» Zudem erodierten die Küsten. Seit dem Bau des Assuan-Staudammes schrumpfe das Nildelta um jährlich bis zu 90 Meter, weil Sediment-Nachschub fehle.

Dass sich das Aufstauen von Flüssen entlang der gesamten Flusslänge negativ auswirkt, zeigt auch das Beispiel der Elbe. In Tschechien wird der Fluss durch etwa 25 Staudämme gebremst, was auf deutscher Seite einen Sedimentmangel zur Folge hat. «Um diesen zu kompensieren, werden hierzulande jährlich rund 80 000 Kubikmeter Sand pro Jahr künstlich in die Elbe eingebracht», sagt Pusch. Auch am Rhein würden jährlich 150 000 Kubikmeter Kies aufwändig aus Kiesgruben auf Schiffe verladen und in den Fluss abgelassen.

Lachse (und Störe... und Aale, und...) mögen keine Mauern

Stauanlagen blockieren aber nicht nur den Sediment-Transport, sondern häufig auch die freie Wanderung von Tieren, vor allem von Fischen. Fischtreppen können das Problem lösen helfen, allerdings erfordert der Bau oft hohe Investitionen. 30 Millionen Euro verschlang etwa der Bau von Europas größter Fischtreppe an der Elbe. An der Staustufe Geesthacht stellt sie sicher, dass Störe und zahlreiche andere Wanderfische flussaufwärts zu ihren Laichgebieten ziehen können. Mehr als zwei Millionen Fische haben die Fischaufstiegsanlage seit Inbetriebnahme im Jahr 2010 passiert, sagt der Energiekonzern Vattenfall, der die Anlage betreibt.

«Wir in Europa sind mittlerweile im Gewässermanagement-Bereich so weit, dass wir ein systemisches Denken entwickelt haben und die Auswirkungen von unseren Eingriffen umfassend betrachten», sagt Pusch. «Damit haben wir eine Vorbildfunktion für viele Länder weltweit.» Allerdings gebe es auch hierzulande noch viel Verbesserungsbedarf. Politische Vorgaben, etwa die der europäischen Wasserrahmenrichtlinie, würden oft zu zögerlich erfüllt, wirtschaftliche Interessen nach wie vor teils höher bewertet als die Ziele des Umweltschutzes.

Natur vs. Energieversorgung

Dass der sorglose Umgang mit den natürlichen Fließgewässern letztlich unsere eigene Lebensgrundlage bedroht, betont LeRoy Poff von der Colorado State University in einem Kommentar zum «Nature»-Artikel. Zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung, die 2015 von den Vereinten Nationen vereinbart wurden, zählten die Sicherstellung der Trinkwasserversorgung sowie der Schutz und die Wiederherstellung wasserbezogener Ökosysteme. Allerdings sei es schwierig, die Funktion der Flussökosysteme und die Artenvielfalt zu erhalten und vor dem Hintergrund des Bevölkerungswachstums gleichzeitig die Wasser-, Nahrungs- und Energiesicherheit der Bevölkerung sicherzustellen. Studien wie die aktuelle lieferten mit ihrer Datenbasis die nötigen Voraussetzungen, um die erforderliche Balance zu erreichen. Anja Garms (dpa)

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