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Ein an den Rollstuhl gebundener Bewohner sitzt in einem Altenpflegeheim in seinem Zimmer.

© picture alliance / dpa

Umstrittener Gröhe-Plan: Arzneitests mit Demenzkranken - ein Pro und Contra

Gesundheitsminister Hermann Gröhe will mehr Medikamententests an Patienten, die selbst nicht mehr zustimmen können. Das Motiv ist honorig. Doch ist die Methode gerechtfertigt? Ein Pro und Contra.

PRO

Pharmatests an nicht einwilligungsfähigen Demenzpatienten – ohne dass sie einen unmittelbaren Nutzen daraus ziehen. Mit solchen Sätzen erregt man die deutsche Öffentlichkeit. Wer möchte sich oder seine Angehörigen als wehrlose Versuchskaninchen für die profitgierige Medizinindustrie missbraucht sehen?

Dieses Reiz-Reaktions-Schema ist bekannt. Zumindest einige Kritiker des Gesetzentwurfs, der klinische Studien mit nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen neu regeln soll, nutzen es, um Zustimmung für ihre Position zu gewinnen. Es scheint zu gelingen, die Kirchen protestieren ebenso wie Vertreter der Interessen Behinderter und etliche Bundestagsabgeordnete, die über den Entwurf abstimmen sollen.

Zweifelsohne stehen sie vor einer schweren Entscheidung. Es geht nicht um die Interessen einer starken Bevölkerungsgruppe, die kurzerhand massive Proteste anzettelt, wenn ihr etwas nicht passt. Es geht um das Wohl von Menschen, die mehr als viele andere unserer Empathie, unseres Einfühlungsvermögens und unseres Schutzes bedürfen. Aus diesem Grund ist der Grundgedanke der Novelle – weitere Studien zu ermöglichen, wenn sie im Interesse der Probanden sind – richtig.

Wer so weit geht, weiß, was er oder sie tut

Um wen geht es? Um Erwachsene, die nicht mehr einwilligungsfähig sind. Das können Demenzkranke sein, das können auch Menschen mit einer Stoffwechselkrankheit sein, die so stark auf die Hirnfunktionen wirkt, dass andere Personen für sie sprechen müssen. Es geht ausschließlich um Menschen, die sich bei klarem Verstand entschieden haben, im Fall einer späteren Erkrankung an Studien teilzunehmen. Der Wunsch, einen Beitrag zu neuen Erkenntnissen zu leisten, muss so groß sein, dass er in einer Patientenverfügung dokumentiert wird. Das ist noch aufwendiger, als etwa einen Organspendeausweis auszufüllen und ins Portemonnaie zu stecken. Wer so weit geht, weiß, was er oder sie tut. Und hat das Recht darauf, dass dieser Entschluss respektiert wird. Ganz klar: Für alle Übrigen, die zu einer anderen Entscheidung kommen oder von Geburt an nicht einwilligungsfähig sind, spielt die Novelle keine Rolle.

Um welche Art von Tests geht es? Die Diskussion entzündete sich an dem Plan, „gruppennützige“ Studien zuzulassen. Damit sind Untersuchungen gemeint, die dem Probanden keinen unmittelbaren Nutzen bringen, aber der Gruppe der Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden. Das könnte im Fall eines Alzheimerpatienten eine medizinische Therapie sein, die an Probanden getestet wurde, die in einem frühen Stadium erkrankt (also einwilligungsfähig) sind. Es ist nicht klar, ob die Therapie bei einem Betroffenen im fortgeschrittenen Stadium ähnlich gut wirkt, der unmittelbare Nutzen ist also nicht gesichert. Ein solcher Test würde dann als gruppennütziger gestartet, weil er der Gruppe der Alzheimerpatienten dient.

Es geht nicht um die Zahl der Studien, sondern um eine grundlegende Entscheidung

Eine andere Gruppe könnten Patienten sein, die aufgrund eines Leberversagens schwere Hirnschäden erlitten haben. Es ist schwer vorauszusagen, welche Wirkung bestimmte Medikamente haben, deren Dosierung für „normale“ Patienten entwickelt wurde, wenn das zentrale Stoffwechselorgan Leber geschädigt ist. Auch in diesem Fall ist der individuelle Nutzen nicht zwingend gegeben. Eine klinische Studie könnte aber Aufschluss darüber geben. Darauf aufbauend können Ärzte in Zukunft fundierte Entscheidungen treffen, anstatt nach „Bauchgefühl“ zu entscheiden.

Das Argument der Kritiker, es gebe kaum Bedarf für Studien unter nicht einwilligungsfähigen Patienten, ist ein schwaches. Schätzungsweise 1,6 Millionen Demenzerkrankte leben in Deutschland. Sie und ihre Familien warten auf Fortschritte in der Behandlung; allein mit Studien an geringer betroffenen Patienten wird man Erkrankten im fortgeschrittenen Stadium nicht wirksam helfen können. Zudem ist die Menge an möglichen Studien kein Kriterium für eine gesetzliche Regelung. Es geht darum, sich grundlegend darüber zu einigen, ob nicht einwilligungsfähige Personen an Tests teilnehmen dürfen, die lediglich einen Gruppennutzen haben.

Bei Kindern ist die Entscheidung bereits 2004 gefallen - dafür

Das gilt im Übrigen ebenso für Minderjährige. Dort ist die Entscheidung bereits gefallen: Mit der Novelle des Arzneimittelgesetzes von 2004 wurden solche Studien an Kindern und Jugendlichen prinzipiell ermöglicht. Sollte dies künftig auch bei Erwachsenen aus der genannten Personengruppe möglich sein, sind dennoch strenge Kriterien zu erfüllen, um tatsächlich als Proband aufgenommen zu werden. Der oder die Betroffene soll so gut es geht aufgeklärt und in den Einwilligungsprozess einbezogen werden. Die Belastung soll gering sein und sich beispielsweise auf Speichelproben oder zusätzliche Blutentnahmen beschränken; das soll durch Ethikkommissionen der Bundesländer sowie Bundesoberbehörden überprüft werden. Wenn der Arzt oder der Betreuer den Eindruck hat, dass der Test nicht im Sinne des Patienten ist – was sich möglicherweise am Gesichtsausdruck oder der Körpersprache ablesen lässt –, muss der Versuch gestoppt werden.

Oft wird bei medizinethischen Debatten auf die besondere Verantwortung Deutschlands aufgrund seiner Historie hingewiesen. Das ist berechtigt. Doch die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass Wissenschaftler dieser gerecht werden und verantwortungsvoll arbeiten. Wir können ihnen zutrauen, dass sie bei der Forschung mit schwer Demenzkranken ebenso verfahren – und uns selbst fragen, ob wir dazu beitragen wollen. Ralf Nestler

Die Menschenwürde ist gefährdet - ein Contra

Ein an den Rollstuhl gebundener Bewohner sitzt in einem Altenpflegeheim in seinem Zimmer.
Ein an den Rollstuhl gebundener Bewohner sitzt in einem Altenpflegeheim in seinem Zimmer.

© picture alliance / dpa

CONTRA

Nein, man sollte jetzt nicht mit der ganz großen Keule kommen und Bezüge herstellen zu den fürchterlichen Menschenexperimenten der Nationalsozialisten. Man muss Gesundheitsminister Hermann Gröhe auch nicht unterstellen, dass er wehrlose Patienten für Forschungsinteressen verzwecken und der Profitgier von Pharmamultis ausliefern möchte. Bei seinem Versuch, die Möglichkeiten für Arzneitests an Nichteinwilligungsfähigen auszuweiten, geht es um ein zutiefst honoriges Anliegen: den Kampf gegen Alzheimer und andere Geißeln der Menschheit voranzubringen. Ohne ein Ausprobieren am Patienten sind wirksame Mittel nicht zu entwickeln. Und um aussagekräftig zu sein, müssen solche Studien auch an Erkrankten erfolgen.

Für die Probanden muss ein Nutzen erwartbar sein

Keine Frage: Demenzkranke dürfen beim medizinischen Fortschritt nicht außen vor bleiben. Doch dafür braucht es keine gesetzliche Änderung. Wenn der Betreuer zustimmt und die Ethikkommission keine Einwände hat, darf neue Arznei auch jetzt schon an Nichteinwilligungsfähigen erprobt werden. Unter einer Bedingung allerdings: Die Probanden müssen davon etwas haben, es muss für sie daraus auch persönlich ein irgend gearteter Nutzen erwartbar sein.

Diese Einschränkung soll nach den Plänen des Ministers wegfallen. An Nichteinwilligungsfähigen dürften dann auch Mittel getestet werden, von denen sie selber gar nicht profitieren.

Die klitzekleine Änderung bedeutet einen Tabubruch

Eine klitzekleine Änderung im Gesetzestext, ein Tabubruch im Ergebnis. Denn wenn es bei den Studien nicht mehr um Heilung und Hilfe für die Probanden geht, sondern um anderweitige Forschungsziele, besteht tatsächlich die Gefahr des Missbrauchs hilfloser Menschen als Versuchskaninchen.

Altruismus ist zwar eine edle Charaktereigenschaft. Sie kann und darf aber nicht jedem unterstellt werden – bloß weil das anderen Vorteile bringt. Dann bräuchten wir auch keine Spendereinwilligung mehr für Organentnahmen.

Es geht um den Schutz der Menschenwürde

Es geht hier um Menschenwürde, um den gefährdeten Schutz einer ganz besonders verletzlichen Personengruppe. Eigenartig, dass ein werteverbundener und kirchennaher Politiker wie Gröhe so wenig Gespür für die Dimension dieser Grenzüberschreitung hat. Hat ihm die lange Beschäftigung mit den Nöten der Arzneihersteller im sogenannten Pharma-Dialog die Antennen beschädigt?

Es ist ja fast schon als Frechheit zu werten, wie der Minister versucht hat, eine derart folgenschwere Änderung unauffällig und ohne öffentliche Debatte ins Bundesgesetzblatt zu bugsieren. Wo er doch bei anderen großen Lebensschutzthemen – Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung, Pille danach – als Bedenkenträger immer in der ersten Reihe stand.

Anders als von der EU vorgeschrieben, so argumentiert der Gescholtene, sei in seinem Gesetzentwurf ja noch eine besondere Hürde vorgesehen. Gruppennützige Studien an Demenzkranken sollen hierzulande auch künftig nur erlaubt sein, wenn sich die Probanden noch vor Ausbruch ihrer Krankheit in geistig klarem Zustand per Patientenverfügung dazu bereit erklärt haben.

Doch wer soll dem medizinischen Laien den Unterschied von eigen- und gruppennützigen Studien erklären? Wer bezahlt diese Beratung? Lassen sich Ziele und Risiken hochkomplexer Medikamententests wirklich 20 oder 30 Jahre im Voraus erahnen und exakt beschreiben? Oder baut der Minister nicht doch vor allem auf den kleinen Passus, den er ebenfalls gerne ins Gesetz gemogelt hätte: Dass nämlich die Einwilligung für Arzneiforschung am eigenen Körper auch dann gelten soll, wenn der Betroffene beim Unterzeichnen ausdrücklich auf jegliche Form der Aufklärung verzichtet hat?

Patientenverfügungen sind für Arzneistudien ungeeignet

Nein, die Hilfskonstruktion mit den Patientenverfügungen ist nicht nur untauglich zur Rückversicherung, dass die Arzneitests nicht doch gegen den Willen des demenzkranken Probanden verstoßen. Sie schädigt auch das gerade erst im Entstehen befindliche Vertrauen in diese standardisierte Form der Willensbekundung fürs Lebensende. Bei Patientenverfügungen geht es um Tod und würdiges Sterben, bei Arzneistudien um möglichst geringe gesundheitliche Beeinträchtigung und Hoffnung auf Heilung. Das darf man nicht nach Belieben vermischen.

Und was, wenn sich herausstellt, dass es nicht genügend Forschungsverfügungen gibt? Öffnen wir die Tür dann noch ein bisschen weiter? Verzichten wir bei Arzneitests als Nächstes ganz auf eine irgendwann zu Papier gebrachte Willensäußerung, wie es Forschungspolitiker jetzt schon empfehlen? Darf man, wenn es nicht mehr um individuellen Nutzen für Probanden geht, sich bald auch an Menschen im Koma bedienen, ihnen etwa, um andern zu helfen, eine Niere entnehmen?

Die vorauseilende Beflissenheit der Politik ist erschreckend

Die kleine Änderung könne „grundlegende rechtsethische Standards auflösen“, warnen Juristen. Und das Erschreckende daran ist die vorauseilende Beflissenheit der Politik. Die Forscher nämlich brauchen gar keine fremdnützige Studien an Dementen. Nicht einmal die vehementesten Verfechter der Änderung konnten bisher überzeugend einen Bedarf belegen. Der Dammbruch, den Gröhe beabsichtigt, wäre rein prophylaktisch.

Bei dieser Gelegenheit darf dann doch darauf verwiesen werden, dass uns aufgrund der deutschen Geschichte beim Forschen an Nichteinwilligungsfähigen etwas Sensibilität gut anstünde. Und vielleicht sollte man auch noch mal an die große Ethikdebatte des vergangenen Jahres erinnern. Damit Sterbehilfe nicht zum Geschäft wird, müssen alle Bürger die Gewähr haben, dass ihnen ihre Menschenwürde bis zuletzt nicht genommen wird. Egal in welchem Zustand. Rainer Woratschka

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