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Eine Frau in einem roten Kleid steht lächelnd an eine Hauswand gelehnt.

© Kai-Uwe Heinrich

Türkische Soziologin im Exil: Warum Nil Mutluer in Berlin Zuflucht sucht

Die türkische Soziologin Nil Mutluer erforscht in Berlin die Mechanik politischer Autorität. Wie diese funktioniert, hat sie selbst erlebt.

Endlich hat sie eine Wohnung gefunden, erzählt Nil Mutluer und legt ihr sirrendes Handy beiseite. Und einen Kitaplatz für die Tochter. Es ist einer der letzten warmen Tage, ein Café in Schöneberg, die Sonne scheint und der Milchschaum ist perfekt. Das geordnete Leben in Zentraleuropa. Nur ein paar tausend Kilometer entfernt aber, in der Türkei, herrscht Krieg. So sagt sie das, und so meint sie es auch. Nil Mutluer ist Soziologin, Aktivistin, Feministin. In den Worten der türkischen Regierung: Terroristin.

Anfang des Jahres leitete Mutluer noch das Institut für Soziologie an der Nisantasi-Universität in Istanbul. Im Februar kam die Kündigung. Sie ist eine Professorin von vielen, die persönlich zur Zielscheibe der Nationalisten wurden und über Nacht entlassen oder gar verhaftet wurden. Wäre sie im März nicht gerade in Norwegen auf einer Konferenz gewesen, wäre vielleicht auch sie umgehend im Gefängnis gelandet, wie viele Freunde und Kolleginnen, die in jenen Tagen öffentlich protestierten.

Wie schützt man sich vor dieser Angst?

Im Januar schon hatte sie am Aufruf „Academics for Peace“ mitgewirkt und – gemeinsam mit 2212 anderen Wissenschaftlern und Intellektuellen – friedlich, aber scharf die türkische Regierung für ihre Angriffe auf die Kurden kritisiert. Eine Frage der Zeit, bis die Polizei eines Morgens auch vor ihrer Tür stehen würde. „Wie schützt man sich vor dieser Angst?“, habe sie sich damals gefragt.

Eine Kollegin half. Gökçe Yurdakul, Professorin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität (HU), ermunterte sie, sich bei der Hilfsorganisation Scholars at Risk zu melden und lud Mutluer an die HU ein. Hier, Unter den Linden, wird sie jetzt zwei Jahre forschen – mit einem Philipp Schwartz-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung.

Sie analysiert, was sich politisch in der Türkei vollzieht

Die Drangsalierung türkischer Wissenschaftler gilt allen Fächergruppen. Aber natürlich ist es auch kein Zufall, dass gerade jemand wie Mutluer ganz oben auf die schwarze Liste geriet. Involviert in Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, wie sie ist, bekannt als kritische Kommentatorin in türkischen Medien.

Sie analysiert ebendas, was sich politisch in der Türkei vollzieht: die Verschmelzung von Nationalismus, Gewalt und Antiintellektualismus, die Mechanik einer sich deinstallierenden Demokratie. Promoviert hat Mutluer in Budapest, über den Kurdenkonflikt und Männlichkeit. Geschlechterforschung sei wie ein Vergrößerungsglas, sagt sie. „Ein feministischer Blick sieht gesellschaftliche Konflikte früher heraufziehen. Die Rechte von Frauen und Kindern einzuschränken, ist Teil einer hegemonialen Politik.“ Darüber, wie sich politische Autorität aus einer sich als unanfechtbar inszenierenden Männlichkeit speist, möchte sie auch an der HU arbeiten.

Widerstreitende feministische Positionen zum Kopftuch

Anfang der 2000er, als sich die Türkei aktiv um die Aufnahme in die EU bemühte, habe es in der Türkei einen feministischen Aufschwung gegeben. Frauen erstritten die gesetzlich verankerte Gleichheit der Geschlechter in der Ehe und eine Änderung im Strafrecht, die „Ehre“ nicht mehr als zulässige Legitimierung in Mordfällen erlaubt. Mutluer analysierte in diesen Jahren widerstreitende feministische Positionen zum Kopftuch. Eine Zeit politischer Möglichkeiten, des produktiven Dissens sei das gewesen.

Seit einigen Jahren aber gebe es einen dramatischen Backlash. Die nationalistische Politik Erdogans habe feministische Gruppierungen gespalten – und mehr noch: „Die AKP hat auch eigene Nichtregierungsorganisationen gegründet und sie als Teil der Frauenbewegung ausgegeben“, erzählt Mutluer.

"Es gibt eine Explosion von Gewalt gegen Frauen"

Die geschmeidige neoliberale Manier, in der sich der Staat eine emanzipatorische Bewegung zu eigen gemacht habe, um sie sodann zur Staatsräson eigener Prägung zu erklären, empört sie. „Von diesen Organisationen gibt es keine Unterstützung für die Freiheit der Frau.“ Die Folgen zeigten sich jetzt – nicht nur in Istanbul selbst, sondern vor allem an der türkisch-syrischen Grenze, in den Kurdengebieten und Flüchtlingslagern. „Es gibt eine Explosion von Gewalt gegen Frauen. Vergewaltigungen, Kinderarbeit, Frühverheiratungen junger Mädchen.“

Dem Paradox von Politikern wie Erdogan, Putin oder Trump auf der Spur

Die systematische, also ökonomische, körperliche und rhetorische Schwächung und Herabsetzung von Frauen sei gleichsam eine „Formel“ totalitärer Staaten, sagt Mutluer, weil sie, jedenfalls vermeintlich, die Figur eines mächtigen Staatenlenkers notwendig mache. „Das ist ja das Paradox von Politikern wie Erdogan, aber auch von Putin oder Trump: Sie müssen ihre politische Stärke mit einem nationalistischen Programm erpressen.“

Verlust des Vertrauens in soziale und politische Sicherheit

Mutluer ist Soziologin mit historischem Blick. Anfang des Jahres veröffentlichte sie einen Aufsatz über die jüngste Geschichte der Aleviten in der Türkei. Die Glaubensgruppierung ist durch die Urbanisierung ländlicher Gebiete in den 1960er Jahren, durch gewaltvolle Angriffe in den Siebzigern und Neunzigern in unterschiedliche politische Lager gespalten. Mutluer beschreibt diese Verwerfungen als Auslöser eines kollektiven Traumas, das die türkischen Säkularisierungswellen bis zu den jüngsten Protesten im Gezi Park durchzieht, wo besonders viele Aleviten umkamen. Der Verlust des Vertrauens in ökonomische, soziale und politische Sicherheit auf alevitischer Seite habe jedoch zugleich Kräfte freigesetzt, um sich als politische Identität zu formieren.

Eine Soziologin ist keine Prophetin. Aber, schreibt sie am Ende ihres Aufsatzes: Das zunehmende Gewaltmonopol des türkischen Staates „forciert das Gefühl von Verlust und Empörung aufseiten der alevitischen Gemeinschaft und führt dazu, dass manche den bewaffneten Widerstand als praktikable Alternative zu friedlichem, demokratischen Widerstand zu begreifen beginnen“. Sie arbeitet heraus, wie eine Eskalationspolitik à la Erdogan die Oppositionen erst hervorbringt, die sie sodann umso aggressiver vom Schutz des Staates auszuschließen versucht. Je mehr Verletzungen ein politisches oder religiöses Kollektiv erfahre, umso identitärer trete es in Erscheinung.

"Unsere Werte, unsere Freiheit, unser Pluralismus wurde verletzt"

Auch die türkischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seien so ein Kollektiv, sagt Mutluer. „Unsere Werte, unsere Freiheit, unser Pluralismus wurde verletzt.“ Die Türkei sei nie eine perfekte Demokratie gewesen. „Aber wir waren auf dem Weg.“ Natürlich habe längst ein Brain Drain eingesetzt. Die kritische Elite fliehe aus dem Land und hinterlasse es vernarbt. Durch die Analystin und Türkin Mutluer geht das als zweifacher Riss. „In anderen Ländern zu leben, ist für mich als Wissenschaftlerin eigentlich normal. Aber das ist anders. Ich habe kein Zuhause mehr.“

Ein Fanal, wie sich Deutschland das Kriegselend in Syrien vom Leib hält

Also lebt sie jetzt in Deutschland. Freude und Dankbarkeit über das Stipendium an der HU, ja, natürlich. „Berlin ist ein schöner, positiver Ort.“ Aber die europäischen Deals mit Erdogan, mit denen man sich auch in Deutschland das Kriegselend in Syrien und der Türkei vom Leib halten wolle, seien ein Fanal. Sie will jetzt Deutsch lernen, um hier die Medien besser verfolgen zu können. Dass die türkische Regierung ein Auge auf ihren Berliner Schreibtisch haben könnte, ängstigt sie nicht. „Wir machen weiter. Gegen populistischen Nationalismus und für Friedensverhandlungen.“ Wir, damit meint sie die Scientific Community weltweit. Gedankenfreiheit kennt kein Exil.

Wie die Bundesregierung auf die Verletzung der Wissenschaftsfreiheit und der Menschenrechte in Partnerländern reagiert, lesen Sie hier.

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