zum Hauptinhalt
Der Teilchen-Beschleuniger.

© Fermillab

„Tür zur unbekannten Physik weiter geöffnet“: Möglicher Widerspruch im Standardmodell der Teilchenphysik entdeckt

Forscher messen etwas, das auf eine Schwäche in der Grundtheorie der Elementarteilchen hindeutet. Muss nun eine „neue Physik“ her, oder ist die alte reparabel?

Das Standardmodell der Teilchenphysik ist eine Art Stammbaum für die Nanowelt. Es beschreibt, welche Teilchen es gibt – vom Elektron und Proton über Quarks bis hin zum Higgs-Boson. Es beschreibt auch, wie durch den Zerfall schwerer Partikel leichtere entstehen und welche Kräfte zwischen ihnen wirken.

Dieses Modell wurde von Physikerinnen und Physikern über Jahrzehnte immer weiter entwickelt und es ist ziemlich robust. In zahlreichen Experimenten wurde es wieder und wieder bestätigt.

Umso spannender ist es, wenn sich Widersprüche auftun und in Versuchen andere Werte gemessen werden als die Theorie vorhersagt. Denn diese Schwachstellen könnten Wege zu einer „neuen Physik“ sein, die am Ende auch Phänomene erklärt, die das Standardmodell nicht erklären kann: die Dunkle Materie zum Beispiel oder die Masse von Neutrinos.

Einen solchen Widerspruch hat jetzt ein internationales Forschungsteam am Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab) in Batavia im US-Staat Illinois entdeckt.

„Das ist ein ganz besonderer Tag“

In einem Online-Seminar und mehreren Publikationen berichteten die Forscherinnen und Forscher dort am Mittwoch von ihren Messungen zum anomalen magnetischen Moment eines Teilchens namens Myon. Der Messwert fiel ein wenig größer aus als er gemäß Standardmodell hätte sein sollen. „Das ist ein ganz besonderer Tag“, sagt Martin Fertl von der Universität Mainz, der von Beginn an an dem Experiment beteiligt war. „Das Ergebnis hat die Tür zu einer bisher unbekannten Physik noch weiter geöffnet.“

Myonen werden auch als „große Brüder“ von Elektronen bezeichnet. Sie sind viel schwerer und zerfallen nach wenigen Sekundenbruchteilen. Myonen kann man sich wie winzige Stabmagneten vorstellen, die um ihre Achse rotieren und dabei eine zusätzliche Kreisbewegung machen wie ein kippeliger Brummkreisel. Auf diese Weise erzeugen sie ein magnetisches Feld.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Schaut man genauer hin, wird es noch etwas komplizierter: Um jedes Myon herum ist der Raum nicht leer, sondern es bilden sich laut Theorie ständig neue Teilchen und vergehen wieder. All diese beeinflussen das Magnetfeld des Myons. Berücksichtigt man diese, so ist das magnetische Moment des Myons laut Berechnung um rund 0,1 Prozent größer als ohne die virtuellen Teilchen.

Ein Experiment am Brookhaven National Laboratory in Long Island vor 20 Jahren ließ allerdings vermuten, dass die Abweichung in Wirklichkeit noch größer ist. Schon damals waren die Physiker mächtig aufgeregt. Doch die Werte waren nicht zuverlässig genug. Es hätte ebenso eine zufällige Abweichung sein können. Daher ersannen die Forscher ein weiteres Experiment, das noch genauer arbeiten sollte.

Es steht am Fermilab und wird von den Fachleuten kurzerhand „g-2“ genannt. Das „g“ steht für „gyromagnetischer Faktor“: die Größe des gemessenen magnetischen Moments geteilt durch die Größe des magnetischen Moments, das nach der klassischen Physik theoretisch zu erwarten wäre. Bei Myonen ist der g-Faktor nahe 2, aber eben nicht ganz, sondern eben etwas größer. Diesen Unterschied gilt es aufzuklären.

Die Anlage am Fermilab ging 2018 in Betrieb. Sie erzeugt Myonen und jagt diese in einen Ring, der von Magneten umgeben ist und 15 Meter Durchmesser hat. Mittels empfindlicher Messgeräte wird die Rotationsfrequenz der „inneren Kompassnadel“ der Myonen in dem Magnetfeld bestimmt sowie das Magnetfeld selbst und daraus das anomale magnetische Moment berechnet.

Daten weiterer Messrunden werden ausgewertet

Bisher haben Fertl und seine Kollegen nur die Daten der ersten von insgesamt vier Messrunden ausgewertet. Und sie sind sehr vorsichtig vorgegangen, um nicht unbewusst ein „Wunschergebnis“ zu erzielen. Bis zu sechs Teams wurden gebildet, die unabhängig voneinander die Messungen auswerteten. Zudem wurden die Daten, wie in medizinischen Studien, teilweise „verblindet“, damit die Analysten keine Anhaltspunkte hatten, in welche Richtung ihr Resultat gehen wird.

Erst Ende Februar wurden zuvor festgelegte und bis dato geheime Korrekturfaktoren bekannt gegeben – erst dann konnten die sich offenbar selbst für potentiell voreingenommen haltenden Physiker das Endergebnis wirklich sehen. Es zeigte erneut eine Abweichung: Laut Theorie müsste der g-Faktor einen Wert von 2,00233183620 haben. Die Experimentatoren ermitteln jedoch 2,00233184122.

Die Abweichung beginnt also erst an der achten Stelle hinter dem Komma.

Ein Zufall? Fertl ist „sehr überzeugt“, dass die Abweichung real ist. „Obwohl unser Experiment völlig neu aufgebaut wurde mit vielen neu entwickelten Komponenten, bestätigt es die Ergebnisse von Brookhaven.“ Nach Angaben der Forscher ist die Wahrscheinlichkeit eines Zufallsfundes geringer als bei dem Versuch von 2001 und beträgt jetzt nur noch 0,0025 Prozent. Die Physiker sagen dazu „4,2 Standardabweichungen“. Allerdings gilt für jegliches Experiment, dass 5 Standardabweichungen erzielt werden müssen (Irrtumswahrscheinlichkeit von weniger als 0,00005 Prozent), bevor von einem handfesten Befund gesprochen werden kann. Dieses Kriterium könnte laut Fertl mit der nächsten Datenauswertung erreicht werden, die für das nächste Jahr erwartet wird. Sie wird auch die Messungen der zweiten und dritten Kampagne beinhalten, die bereits abgeschlossen sind.

[Alle wichtigen Nachrichten des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu Kommentare, Reportagen und Freizeit-Tipps. Zur Anmeldung geht es hier.]

Sollte sich der Widerspruch zur Theorie erhärten, dann kann die Theorie schlicht nicht korrekt sein. Es gebe etliche Ansätze, um aus dem Dilemma herauszukommen, von der Supersymmetrie über Leptoquarks bis hin zu weiteren Higgs-Teilchen, sagt Dominik Stöckinger von der TU Dresden , der als Theoretiker an der Kollaboration beteiligt ist. Eine große Revolution, bei der das Standardmodell ganz umgeworfen wird, erwartet er nicht. „Dafür ist es viel zu robust und hat sich in vielen Versuchen bewährt.“ Er schätzt, dass es genügen dürfte, die vorhandene Theorie anzupassen.

„Je nachdem, welchen Wert die g-2-Messung am Ende liefert, scheiden bestimmte Konzepte aus oder erweisen sich als gute Ansätze.“ Falls sich die Zahl bei dem aktuellen Wert einpendelt, käme beispielsweise ein Modell in Betracht, das weitere Higgs-Bosonen enthält und nicht nur das eine bisher bekannte. „Diese anderen Higgs-Teilchen sollten gemäß Theorie eher starke Wechselwirkungen haben.“ Damit erhöhte sich auch die Chance, diese postulierten Partikel mit dem LHC am Kernforschungszentrum CERN in und bei Genf zu finden – oder einem anderen Beschleuniger.

Je weiter man in diese Richtung diskutiert, umso mehr Konjunktive tauchen aber auf - und Teilchen, die bisher keiner gesehen hat. Darauf weist auch Stöckinger hin und mahnt zur Vorsicht: „In der Vergangenheit kam es häufiger vor, dass Experimente etwas andeuteten, was am Ende aber nicht bestätigt wurde.“ Gründe waren etwa grundlegende Fehler in den Messungen - oder ein vermeintliches Signal verschwand schlicht wieder, je mehr Daten erhoben wurden.

Ergebnisse müssen noch von weiteren Teams bestätigt werden

Selbst wenn die Ergebnisse aus dem Fermilab robust sind, so müssen sie von weiteren Teams bestätigt werden. Dies könnte am Japan Proton Accelerator Research Complex (J-PARC) geschehen, wo gegenwärtig eine neue Messmethode für das magnetische Moment der Myonen entwickelt wird.

Bei aller Skepsis, man merkt Stöckinger auch die Hoffnung an, dass die Physiker womöglich endlich eine Schwachstelle des Standardmodells gefunden haben. Denn es kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Sein größtes Manko: Es kann die Gravitation nicht erklären, eine auf Teilchenebene zwar extrem schwache Wechselwirkung, die aber auf der Makro-Ebene das bekannte Zusammenspiel von Sternen, Planeten und Schwarzen Löchern erst möglich macht.

Beides miteinander zu vereinen, die Makro- und die Miniwelt und ein Prinzip zu finden, das beide gleichermaßen erklärt, ist eines der großen Ziele der Physik. Der Dresdener Forscher ist aber skeptisch, ob das so bald gelingen kann. „Wir können viele Theorien entwickeln, aber es gibt keinen Input durch Experimente – doch den braucht es, um die Ideen weiterzuentwickeln und schließlich zu einem Ergebnis zu kommen.“

Auch sein Mainzer Kollege Fertl weist darauf hin, dass das „g-2“-Experiment allenfalls den Beginn eines Weges markiert und das Ändern der Theorie keine leichte Sache sei: „Wenn man versucht, sie an dem einen Ende zu den realen Messgrößen hinzuziehen, treten dafür am anderen Ende umso größere Spannungen auf.“ Es braucht wohl doch noch etliche Fortschritte von Theoretikern und Experimentatoren bis das Standardmodell verbessert oder gar abgelöst wird.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false