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Flatterhaft. Unter welchen Haltungsbedingungen sich ein Huhn wohl fühlt, sollte besser durch Forschung als durch Vermutungen ergründet werden. Das Freiland behagt den Tieren jedenfalls weit weniger als bislang gedacht.

© picture alliance / Jan Woitas / dpa

Tierschutz: Freilandhaltung stresst die Hühner

Nutztiere sollen sich wohlfühlen. Was es dafür in der Tierhaltung braucht, muss jedoch besser erforscht werden.

Seit 2002 steht der Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz. Als abstraktes Prinzip, gewissermaßen ohne Fleisch auf den Rippen. In den letzten Jahren wurde aber politisch daran gearbeitet, die Idee auch umzusetzen. Für ein besseres Tierleben im Schweinestall und auf der Hühnerfarm kommen zum Beispiel Initiativen aus dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Recht ehrgeizig klingt, was jetzt im druckfrischen Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD dazu zu lesen ist: „Deutschland soll beim Tierschutz eine Spitzenposition einnehmen.“

Woher weiß man, wann sich Tiere wohl fühlen?

Das Ziel kann sich wohl großer Zustimmung in der Bevölkerung sicher sein. Der jüngst veröffentlichte Ernährungsreport des Ministeriums hat jedenfalls gezeigt, dass 90 Prozent der Verbraucher im Land prinzipiell bereit wären, einen höheren Preis für Lebensmittel zu zahlen, wenn die Tiere besser gehalten werden, als es das geltende Recht vorschreibt. Fast ebenso viele wünschen sich auch mehr Transparenz, um ihre Kaufentscheidungen informiert treffen zu können.

Ein staatliches Tierwohl-Label soll bald dazu beitragen. Bis zur Mitte der Legislaturperiode sollen laut Koalitionsvertrag die Voraussetzungen dafür vorliegen. Bewusst doppelsinnig heißt die vorbereitende Initiative, die das Landwirtschaftsministerium 2014 startete, „Eine Frage der Haltung“. Der Mensch soll Haltung zeigen, damit die Tierhaltung „humaner“ wird.

Doch wie muss das Lebensumfeld genau aussehen, damit sich Nutztiere wohlfühlen? Der Biopsychologe und Tierforscher Onur Güntürkün vom Institut für Neurowissenschaften der Ruhr-Universität Bochum hat eine klare Vorstellung davon, wie das herauszufinden ist: „Man muss die Tiere selber fragen.“

"Humane" Tierhaltung, aber nicht anthropozentrisch

Der Wissenschaftler, der sein internationales Renommee vor allem den Untersuchungen zu den kognitiven Fähigkeiten von Tauben und der Architektur ihres Gehirns verdankt, ist kein Doktor Doolittle, der 498 Tiersprachen sprechen würde. Wenn er „Gespräche“ mit Tieren führt, dann tut er das mit klassischen experimentalpsychologischen Methoden. „Wir können Hühner durchaus fragen, wie viel es ihnen wert ist, dass sie in einer kleinen Gruppe leben oder dass sie ein Sandbad zur Verfügung haben“, sagt Güntürkün. Das Federvieh „antwortet“, indem es mit mehr oder weniger Kraft eine Tür aufstößt, die in einen Lebensraum mit den fraglichen Bedingungen führt. Seine Vorlieben zeigt es schlicht durch das Ausmaß der Bereitschaft, dafür zu kämpfen. „Im Prinzip existieren diese Methoden, wir können die Bedürfnisse der Tiere in eine Hierarchie bringen“, sagt der Biopsychologe.

Allzu oft, so seine Kritik, würden deren Bedürfnisse allerdings mit denen der Menschen gleichgesetzt. Prinzipiell mag es zwar sinnvoll sein, einem kleinen Kind zu erklären: „Quäle nie ein Tier im Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz.“ Trotzdem sagt Güntürkün: „Es ist gefährlich, beim Tierwohl anthropozentrisch zu denken.“

Verblüffendes Ergebnis einer verblindeten Studie

Sein Aha-Erlebnis kam mit einem Forschungsprojekt, für das ihn vor Jahren niederländische Kollegen vom Fachbereich für Tiergesundheit der veterinärmedizinischen Fakultät in Utrecht gewonnen hatten. Sie untersuchten, ob und wie sich die Gehirne von Legehennen durch die Art verändern, in der sie auf Hühnerfarmen gehalten werden. Im „Journal of Chemical Neuroanatomy“ beschrieben die Forscher 2009, was in den Vorderhirnen der Tiere passiert und wie sich die Haltungsbedingungen auf die Konzentration bekannter Stresshormone auswirkt.

Die Hennen hatten ihr Leben von der Pubertät (mit 16 Wochen) bis ins hohe Erwachsenenalter (mit 48 Wochen) an recht unterschiedlichen Orten verbracht: jeweils zu fünft in einem Käfig, mit 50 anderen in einer Boden-Voliere oder mit 3000 Artgenossen in einem Stall mit großem Freigehege und viel Auslauf.

Auf den ersten Blick war klar, dass die Legehennen aus einer der drei Gruppen schlimm dran waren: Sie sahen wie gerupft aus. Auch in ihrem Gehirn zeigten sich Veränderungen, die auf sozialen Stress hindeuteten. Güntürkün und seine Kollegen wussten nicht, zu welcher Gruppe die Hühner gehörten, die sie in Augenschein nahmen. Solche „Verblindung“ nutzen Forscher, um bei Studien jegliche Einflussnahme der beteiligten Personen auszuschließen. „Jeder von uns hat erwartet, dass es die Käfighühner waren, denen es so schlecht ging“, sagt Güntürkun. Als die Kollegen aus Holland den Code herüberschickten, konnten es die Bochumer Forscher kaum glauben: Die Hühner, die einen so armseligen Anblick boten, hatten im Freigehege am meisten Platz gehabt. „Mit ihrer Forderung nach Auslauf unter freiem Himmel haben die wohlmeinenden Tierschützer auf der Ebene des Huhnes eine Katastrophe angerichtet“, urteilt Güntürkün heute.

Freiland klingt gut, nur nicht für Hühner

Und er hat eine evolutionsbiologische Erklärung dafür: Unsere heutigen Haushühner haben Vorfahren, die im südostasiatischen Dschungel lebten. Sie fanden Schutz unter großen Pflanzen, wenn sie von großen Raubvögeln bedroht waren. Und sie lebten in kleinen Gruppen in einer festen Pickordnung. Auf Freiflächen ohne jede Deckung mit Tausenden von anderen zusammenzuleben, führt bei den Nachkommen deshalb zu panischer Angst und zu ständigen Rangstreitigkeiten, bei denen die Tiere Federn lassen.

„Meine erste Reaktion auf die Ergebnisse war Wut“, sagt Güntürkün. „Darauf, dass wir uns gegenseitig Geschichten erzählen, die keine wissenschaftliche Grundlage haben, sondern von anthropozentrischen Gefühlen getrieben sind. Und davon will ich mich selbst gar nicht ausnehmen.“ Wenn die Güntürküns heute im Supermarkt fragen, ob man denn auch Eier aus Käfighaltung haben könne, ernten sie böse Blicke, so berichtet der Wissenschaftler.

Am liebsten allerdings kaufen sie ihre Frühstückseier von einem Bauernhof in der Umgebung. „Dort werden nur rund zwanzig Hühner ganz klassisch gehalten.“ Sie leben im Stall, können aber auch in den Hof, wo Büsche und Bäume Schutz bieten. Eine Idylle, doch der Landwirt verdient sich mit den Eiern allenfalls ein Zubrot. Relevanter als diese Ausnahme sind wissenschaftlich begründete Regeln für den Umgang mit Tieren in der industriell organisierten Landwirtschaft.

"Zoos sind eine Arche Noah für viele Tierarten"

Für unsere vorwiegend städtisch geprägte Gesellschaft wünscht sich Güntürkün zudem eine vorurteilsfreie Betrachtung von zoologischen Gärten. Er sieht die Gehege und Käfige in Tierparks als mögliche Schutzräume – artgerechte Haltung vorausgesetzt. „Die Zoos sind heute eine Arche Noah für viele Tierarten, und damit nicht zuletzt für genetische Fragen in der Forschung.“ Ob es den Tieren dort gut geht, lasse sich ebenfalls mit empirischer Forschung ermitteln.

Um auf die Hühner zurückzukommen: Dass bei der ganz auf die Eierproduktion ausgelegten Sparte der Zucht männliche Küken sofort nach dem Schlüpfen ihr Leben lassen müssen, dient ihrem Wohl sicher nicht. Zu diesem Aspekt des Tierwohls wird man die Betroffenen nicht eigens „befragen“ müssen. Forschung hat hier die Aufgabe, das Prozedere zu verändern, und die nimmt sie bereits wahr: Eine Idee ist, das Geschlecht der Tiere optisch oder hormonell schon im Ei zu bestimmen, eine andere, Geflügel zu züchten, das nicht auf eine einzige „Nutzung“ festgelegt ist. Sodass auch die männlichen Küken von Legehennen leben dürfen. Der Koalitionsvertrag verspricht es: „Das Töten von Eintagsküken werden wir bis zur Mitte der Legislaturperiode beenden.“

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