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In der Gruppe intelligent. Norweger-Pferde auf einer Weide im hessischen Odenwald.

© picture-alliance/ dpa

Tierische Intelligenz: Pferde sind viel klüger als gedacht

Die Intelligenz der Tiere wurde jahrzehntelang unterschätzt. Dabei sind sie mehr als nur muskelbepackte Kreaturen: Pferde können sogar Werkzeuge benutzen.

Der schwarze Araberhengst „Hans“ war schlau: Er konnte rechnen, den Wochentag benennen und die Uhrzeit lesen. Der pensionierte Schullehrer Wilhelm von Osten führte in einem Berliner Hinterhof den Rappen vor, der mit seinem Huf auf den Boden klopfte, bis die richtige Antwort erreicht war. Wie viele Frauen mit Strohhüten sah er im Publikum? Was ist die Wurzel aus 16? Hans wusste Bescheid. Im Sommer 1904 erstaunte er so nicht nur Berlin, Deutschland und Europa, er schaffte es gar auf die Titelseite der „New York Times“.

Doch Oskar Pfungst vom Psychologischen Institut der Berliner Universität war skeptisch – und hatte eine Eingebung. Hans, mutmaßte er, könne in der Mimik seines Fragestellers lesen. Verpasste man Hans Scheuklappen, scheiterte der Gaul kläglich. Ansonsten jedoch nahm er subtile Kopfbewegungen wahr: Senkte eine Person nach einer Frage den Blick leicht zu den Hufen, begann er aufzutreten. Hob sie den Kopf etwas, wenn die richtige Zahl erreicht war, hörte er auf. In die Geschichte der Tierpsychologie ging Hans deshalb nicht für seine Intelligenz, sondern für den „Versuchsleitereffekt“ ein.

Die Blamage grub sich tief ins Bewusstsein der Wissenschaftler ein. Für Tiere galt danach viele Jahrzehnte, sie würden nur reagieren, nicht denken. Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat sich dies langsam geändert. Verhaltensforscher begannen, Intelligenz, Sprachtalent oder Empathie von Schimpansen, Papageien, Raben, Hunden oder Ratten zu erforschen. „Pferde dagegen standen viel länger unter Generalverdacht“, sagte Konstanze Krüger, Expertin für Pferdehaltung an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen, beim „Internationalen Treffen zur Pferdewissenschaft“ an der Universität Regensburg. „Erst in den letzten Jahren wandelt sich das.“

Das Hirnvolumen nimmt zu, wenn Tiere in sozialen Verbänden leben

Während Kenner wissen, dass Pferde höchst sensibel und verständig sind, sieht der Rest der Welt nur glubschäugige, muskelbepackte Kreaturen mit furchteinflößenden Hufen. Doch Tierpsychologen, Verhaltensforscher, Zoologen und andere Pferdekundler legen inzwischen in Experimenten regelmäßig dar, dass die Tiere schlauer sind, als man gemeinhin denkt. Hans mag kein Pferde-Einstein gewesen sein, aber er verfügte über ein empfindliches Wahrnehmungsvermögen, das ihm erlaubte, subtilste Reaktionen zu interpretieren. Zudem bilden Pferde abstrakte Konzepte, kennen ihren Namen und sind mitunter sogar in der Lage, Werkzeuge benutzen.

Die Voraussetzung für solche Intelligenzleistungen schuf die Evolution. Die Verhaltensforscherin Susanne Shultz von der Universität Oxford analysierte kürzlich gemeinsam mit dem Psychologen Robin Dunbar die Hirnentwicklung von Säugetieren über die vergangenen 60 Millionen Jahre. Dabei stellte sie fest, dass die Gehirne jener Tiere stark wuchsen, die in stabilen sozialen Verbänden leben. So nahm das Volumen der Gehirne von Affen am meisten zu, gefolgt von Pferden, Delfinen, Kamelen und Hunden. „Soziale Säugetiere müssen sich in der Gruppe koordinieren, kooperieren, Normen entwickeln“, sagt Shultz. „Da braucht es mehr geistige Kapazität.“

Pferde verfügen über Problemlösungsstrategien

In der freien Wildbahn leben Pferde in Gruppen mit starken Bindungen. Meist sind es Familienherden mit mehreren Stuten und einem Leithengst oder eine Horde junger Hengste, die noch keinen Harem gründen konnten. Unweigerlich kommt es dabei zu Konflikten. Sei es, dass ein Jungtier in einer Herde das Oberhaupt herausfordert oder ein Pferd in der Gruppe aggressiv agiert. Bei solchen Streitigkeiten greifen einige Pferde regelmäßig ein, wie Konstanze Krüger anhand einer halb wild auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz bei Nürnberg lebenden Pferdeherde beobachten konnte. Sie schlichten Auseinandersetzungen, bestrafen oder führen eine Wiedergutmachung herbei. Wie der Mensch verfügen Pferde also über Konfliktlösungsstrategien. Und das geht nur, wenn sie ihre Rangposition, alle Einzeltiere und ihr Hierarchieverhältnis zueinander in einer Gruppe kennen. „Das bestätigt Darwin“, sagt Krüger. „Geistige Fähigkeiten zwischen Mensch und Tier unterscheiden sich mehr in ihrer Ausprägung als in ihrer Existenz.“

Die soziale Intelligenz macht sich auch im Umgang mit dem Menschen bemerkbar. Pferde beobachten Artgenossen genau und ziehen daraus Rückschlüsse. So folgen sie in einem runden, eingezäunten Platz einen Trainer schneller, wenn sie zuvor ein anderes Pferd dieselbe Übung haben durchlaufen sehen. Jedoch nur, wenn es ein dominantes Pferd ihrer Gruppe ist. Ebenso haben die Tiere auch den Menschen genau im Blick. Sie merken sich meist, unter welchem Eimer eine Person eine begehrte Karotte versteckt. Oder sie lernen durch Beobachtung, wie man eine Futterbox öffnet. Und sie reagieren auf ihren Namen, wird er gerufen. Was bedeutet, dass sie ihn kennen und auf sich beziehen.

Die aufgeweckte Anpassungsfähigkeit an das Leben mit dem Menschen hat es letztlich ermöglicht, dass Pferde vor rund 5000 Jahren zu willfährigen Partnern des Menschen geworden sind: als Zugtier auf dem Feld oder der Straße, als Reitpferd oder in jüngster Zeit als Therapiepartner körperlich oder geistig erkrankter Menschen. Doch Pferde sind nicht nur sozial intelligent. Sie können offenbar abstrakte Konzepte verstehen. So konfrontierte Martina Gerken, Expertin für Nutztierhaltung von der Uni Göttingen, gemeinsam mit ihrer Studentin Vivian Gabor Shetland-Ponys mit einem Bildschirm, auf dem drei Symbole als Dreieck angeordnet waren: ein Kreis, ein Dreieck und ein Kreuz. Die Ponys konnten mit einem Nasenstupser gegen einen Knopf neben einem der Symbole einen Futterautomaten betätigen, wenn auf dem Display ein zweites, identisches Symbol zu sehen war. Das lernten die hungrigen Pferde rasch, offenbar können sie also Kategorien wie „Gleichheit“ bilden.

Ein Wallach benutzte einen Ast, um an Heu zu gelangen

Ist das schon erstaunlich, sind Pferde womöglich sogar zu einer ungewöhnlichen Intelligenzleistung fähig. Hanspeter Meier von der Pferdeklinik der Universität Bern und der Veterinär Olivier Brandenberger konnten kürzlich bei einem Pferd und einem Maultier beobachten, was bislang Vögeln, Insekten und Säugetieren wie Elefanten oder Primaten vorbehalten schien: der Gebrauch eines Werkzeugs. In einem Pferdestall im Schweizer Mittelland benutzte der Wallach einen Ast, um an Heu zu gelangen, das sich in einem Zwischenraum unter der Futterkrippe angesammelt hatte. Nach einiger Zeit kopierte das Maultier das Verhalten.

Offene Fragen gibt es indes noch genug. Vor allem weiß bis heute niemand genau, was in den Gehirnen der Pferde vorgeht. Man kann nur ihr Verhalten beobachten. Die riesigen Tiere in einen Hirnscanner zu legen, ist nicht praktikabel. Doch gibt es Perspektiven. Der Hirnforscher Thomas Mühlemann vom Universitätsspital Zürich hat drahtlose Sensoren an Schafen getestet, die am Kopf den Sauerstoffgehalt des Blutes in der Großhirnrinde messen. Ziel des Versuchs mit der funktionellen Nahinfrarotspektroskopie genannten Technik: die Befindlichkeit der Tiere zu ermitteln. Auch für kluge Pferdeköpfe sollte sie anwendbar sein. „Es wäre doch schön, zu erfahren, wie die Tiere uns sehen“, sagt Konstanze Krüger. „Ob als Mitglieder ihrer Herde oder als Fremde, die kooperieren.“

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