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White House Butterfly

© AP

Synästhetik: Mit den Augen hören

Bildern lauschen, Töne schmecken: Neurowissenschaftler erkunden, wie Menschen ihre Sinne verknüpfen können.

"I want to hear the scream of the butterfly", sang Jim Morrison in den sechziger Jahren. Bisher ist es noch niemandem gelungen, die Schreie von Schmetterlingen wahrzunehmen. Doch wie wäre es, wenn man immer komische Geräusche hören würde, sobald ein Schmetterling an einem vorbei durch die Luft flattert? Oder während man einen Käfer beobachtet, der einen Sandhügel hinaufkrabbelt?

Tatsächlich gibt es Menschen, die mit der Fähigkeit auf die Welt gekommen sind, alles, was sich vor ihren Augen bewegt, zu hören. Sie haben nicht etwa besonders gute Ohren. Und ihre Wahrnehmung ist auch keine Halluzination. Die Klänge, die sie hören, entstehen im Gehirn. Diese Gabe, Erlebnisse mit mehreren Sinnen gleichzeitig wahrzunehmen, bezeichnen Forscher als "Synästhesie". So weiß man seit langem, dass es Menschen gibt, für die manche Geräusche süß oder bitter schmecken. Doch dass einige "Synästhetiker" bewegte Bilder hören können, fanden US-Neurowissenschaftler erst jetzt heraus - durch Zufall.

Melissa Saenz und Christof Koch vom Caltech Institute of Technology in Pasadena waren selbst überrascht von ihrer Entdeckung, die sie jetzt im Fachjournal "Current Biology" (Band 18, Seite R650) vorstellen.

Alles begann, als Melissa Saenz gerade ein Experiment zu einem ganz anderen Thema durchführte. Zum Versuchsaufbau gehörte eine Computeranimation, bei der Punkte über den Bildschirm flitzten. Als ein Student, der gerade vorbeikam, das Tanzen der Punkte beobachtete, fragte er: "Hört ihr auch etwas, wenn ihr auf den Monitor blickt?" Das machte die Forscherin stutzig. Die Animation war nämlich völlig stumm, und außerdem waren die Lautsprecher des Computers abgeschaltet.

Bald darauf stellte sich heraus: Der Student empfand es als selbstverständlich, dass er bewegliche Objekte nur in Begleitung von Geräuschen wahrnimmt. Daraufhin beschlossen die beiden Neurowissenschaftler aus Kalifornien, sich auf die Suche nach weiteren Synästhetikern solcher Art zu machen. Sie wurden fündig.

Bei jedem Baby sind optische und akustische Areale im Hirn verbunden

Von mehreren hundert Versuchspersonen, die mit springenden Punkten und Lichtblitzen konfrontiert wurden, gaben drei an, kratzende, polternde, schwirrende oder blubbernde Geräusche zu hören. Zum Abschluss ihrer Untersuchung ließen die Forscher Synästhetiker und Nichtsynästhetiker gegeneinander antreten. Den beiden Gruppen wurden 100 Paare von Morsezeichen mit ähnlichen Klang- und Bildmustern präsentiert. Die Probanden hatten die Aufgabe, jeweils zu entscheiden, ob sie es mit identischen oder unterschiedlichen Mustern zu tun hatten. Das eindeutige Ergebnis: Beim Erkennen der Tonfolgen erreichten beide Teams eine Trefferquote von 85 Prozent. Doch bei der Identifikation der grafischen Muster erwiesen sich die Synästhetiker als weit überlegen. Während sie auch hierbei eine Trefferquote von 85 Prozent erzielten, brachten es die Nichtsynästhetiker bloß auf eine Zufallsquote von kläglichen 55 Prozent. Melissa Saenz und Christof Koch glauben, dass die Zahl derjenigen, die über dieses Talent verfügen, recht hoch ist. Die meisten wissen allerdings gar nichts von ihrer Gabe oder verleugnen sie. Ob jemand ein "Hör-Seher" ist, lässt sich übrigens ganz einfach testen: Es genügt, sich einen Film bei abgedrehtem Ton anzusehen. Wer trotzdem etwas hört, ist Synästhetiker. Wahrscheinlich ist diese Fähigkeit ein uraltes Erbe und war früher im Überlebenskampf nützlich.

Einer von 200 Menschen kann "querdenken"

Doch können Synästhetiker tatsächlich Geräusche und Klänge hören, für die gewöhnliche Sterbliche taub sind, oder bilden sie sich das nur ein? "Das hängt davon ab, was man unter Geräusch oder Klang versteht", erklärt Saenz. "Meint man damit Wahrnehmungserlebnisse im Geist, dann existieren sie ohne jeden Zweifel. Wenn damit gemeint ist, dass es zu einer realen Übertragung von Schallwellen kommt, dann sind die wahrgenommenen Geräusche und Klänge irreal."

Heute schätzt man, dass auf 200 Menschen einer kommt, der diese besondere Art des Querdenkens beherrscht. Unter Künstlern ist der Anteil besonders hoch. Kürzlich hat der Neurologe Vilayanur Ramachandran von der Universität Kalifornien in San Diego gezeigt, dass alle Menschen mehr oder weniger synästhetisch begabt sind. In einem Experiment wurden Versuchspersonen mit einem welligen, amöbenartigen sowie einem gezackten, scharfkantigen Gegenstand konfrontiert. Sie sollten sich vorstellen, dass es sich hierbei um die beiden ersten Buchstaben des Mars-Alphabets handelt. Danach ließ der Wissenschaftler sie entscheiden, welcher der beiden Gegenstände "Booba" und welcher "Kiki" heißen könnte. Zwischen 95 und 98 Prozent der Befragten erklärten, dass sie die gezackte Form "Kiki" und die wellige "Booba" nennen würden.

Noch ein weiterer Umstand spricht laut Ramachandran dafür, dass die Synästhesie nicht das Privileg einer winzigen Minderheit sein kann: Die Metaphern der Alltagssprache sind alles andere als willkürlich. So spricht man zwar von "schreienden" Farben, aber nicht von "bitteren" oder "salzigen". Man kann sagen, dass etwas "scharf" schmeckt. Aber eine Oberfläche, die sich "sauer" oder "rötlich" anfühlt? Nein. In alledem, vermutet Ramachandran, kommt zum Ausdruck, dass verschiedenartige Sinneseindrücke in der Regel nur dann metaphorisch verknüpft werden, wenn zwischen den zuständigen Gehirnregionen neuronale Verbindungen bestehen - wie beim Geruchs- und Geschmackssinn. Nach seiner Theorie liegt darin sogar die Grundlage dafür, dass der Mensch die Sprache entwickelte: Nur so waren die frühen Hominiden seiner Ansicht nach in der Lage, jedem Objekt ein seiner Form entsprechendes Lautmuster zuzuordnen.

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