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In 29,8 Prozent der Fälle werden „Arbeiterkinder“ trotz gleicher Leistung schlechter bewertet.

© dapd

Studie zu Zensuren in der Schule: Bei gleicher Leistung mies benotet

Kinder aus bildungsfernen Familien haben es in ihrer Schullaufbahn doppelt schwer: Lehrer geben ihnen bei gleicher Leistung häufig schlechtere Noten als Schülern höherer Schichten. Und die Eltern bremsen ihren Weg aufs Gymnasium.

Es ist ein alarmierender Satz, mit dem sich die Ergebnisse der „Herkunft zensiert?“-Studie zusammenfassen lassen: Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern werden in deutschen Schulen ungerecht behandelt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie deutscher und Schweizer Bildungsforscher. Bei gleicher Leistung erhalten Schüler, die in sozial schwierigen Verhältnissen aufwachsen, schlechtere Noten als ihre Kameraden aus bildungsnahen Schichten. Benachteiligung erfahren sie allerdings nicht nur durch die Lehrer. Auch die Entscheidung der Eltern für die weitere Schullaufbahn ihres Nachwuchses hält Schüler aus bildungsfernen Familien von höheren Schulabschlüssen ab.

Für die Studie mit dem Titel „Herkunft zensiert? Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheiten in der Schule“ haben die drei Bildungsforscher Kai Maaz (Universität Potsdam), Ulrich Trautwein (Universität Tübingen) und Franz Baeriswyl (Universität Freiburg/Schweiz) im Auftrag der Vodafone-Stiftung drei bereits vorliegende Studien ausgewertet, die Timss-Studie, die Berliner Element-Studie und die Tosca-Studie. Die Untersuchungen erfassen die Schülerleistungen und ihre Bewertungen an Schnittstellen in der Schullaufbahn, entweder beim Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule oder rund um das Abitur. In diesen Phasen spielen die Noten eine besondere Rolle für den weiteren Lebensweg der Schüler. Mit einer Kombination aus schriftlichen Tests in verschiedenen Fächern und Befragungen der Schüler sowie ihrer Eltern und Lehrer versuchen bereits diese Studien aus den Jahren 2004 bis 2010 Aussagen zum Verhältnis der persönlichen Einschätzung und dem tatsächlichen Können der Schüler zu ermitteln.

Laut der aktuellen Meta-Studie werden Schüler niedriger sozialer Herkunft in 29,8 Prozent der Fälle trotz gleicher Leistung schlechter bewertet als ihre Mitschüler aus höheren Schichten. Schüler aus bildungsfernen Familien, die in den standardisierten Leistungstests die gleichen Ergebnisse erzielt haben wie ihre Mitschüler aus bildungsnahen Familien, werden im Schulalltag zu 21,6 Prozent schlechter benotet. 8,2 Prozent der „Arbeiterkinder“ erhalten bei gleicher Leistung eine geringere Schulempfehlung als die Schüler aus bildungsnäheren Elternhäusern – etwa eine Empfehlung für eine Sekundarschule statt für ein Gymnasium. Woher kommt diese Ungleichbehandlung? Haben die Lehrer Vorurteile gegenüber den bildungsferneren Schülern? Trauen sie ihnen zu wenig zu?

Die Studie weist zunächst darauf hin, dass Noten im Schulalltag nicht nur die Ergebnisse von standardisierten Leistungstests widerspiegeln, sondern sich noch aus weiteren Teilen zusammensetzen: Zu 14,4 Prozent ließen Lehrer in die Noten etwa die „Anstrengungsbereitschaft“ der Schüler einfließen, neun Prozent mache die „Gewissenhaftigkeit im Unterricht“ aus. Dies kommt im besten Fall jenen Schülern zugute, die im schriftlichen Ausdruck Probleme haben oder die unter Prüfungsangst leiden. Hier bietet sich also eine Chance, die individuellen Voraussetzungen eines Schülers auch bei der Notenvergabe zu berücksichtigen und zum Beispiel mit der Anerkennung der eifrigen Teilnahme den Schüler zu motivieren. Andererseits besteht die Gefahr, dass Schüler aus niedrigen sozialen Milieus von vorneherein als frech und verhaltensauffällig abgestempelt werden. Eine Oldenburger Studie zur Wirkung von eher als bildungsfern geltenden Schülervornamen wie Kevin und Chantal weist darauf hin, dass Lehrer solche Ressentiments tatsächlich pflegen.

Betrachtet man weitere Zahlen der Expertise von Maaz, Baeriswyl und Trautwein, zeigt sich, dass nicht nur die Lehrer in vielen Fällen die fachliche Leistung der Schüler bei der Bewertung hintanstellen: Welche weiterführende Schule ein Kind besucht, wird zu 28,6 Prozent von „schichtabhängigen Entscheidungen der Eltern“ beeinflusst. Eltern, die selbst nicht auf dem Gymnasium waren, schicken ihren Nachwuchs eher auf eine Sekundarschule als Eltern, die Abitur gemacht haben. 28,6 Prozent, diese Zahl ist erstaunlich nah an den insgesamt 29,8 Prozent der Fälle, in denen die Lehrer bei der Bewertung der Schüler von der tatsächlichen Leistung abweichen. Das könnte darauf hinweisen, dass die Lehrer und die Eltern bei der Einschätzung, welcher künftige Bildungsweg für die Schützlinge am besten sei, in der Regel am gleichen Strang ziehen.

Für die Arbeiterkinder bedeutet das dann oft: Ein Gymnasium kommt nicht infrage, auch wenn die Leistungen stimmen. Dass diese Entscheidung nicht vom bösen Willen der Lehrer und Eltern geleitet wird, sondern dass im Gegenteil sozial benachteiligte Schüler vor späterer Überforderung geschützt werden sollen, ist für die Autoren der Studie klar. Dennoch sorgen Lehrer und Eltern im Zusammenspiel dafür, dass die Arbeiterkinder weniger Chancen haben, sich in einer anspruchsvollen Schulumgebung zu beweisen.

Die Entscheidung der Eltern ohne höheren Bildungsabschluss hält deren Kinder sogar noch stärker vom Besuch des Gymnasiums ab als die ungleiche Notenvergabe durch die Lehrer: 13,3 Prozent mehr Schüler niedriger sozialer Herkunft könnten laut der Studie ein Gymnasium besuchen, wenn ihre Eltern sie ließen – statt jetzt 19,2 Prozent dann 32,5 Prozent. Würden die Lehrer auf die ungleiche Benotung gleicher Leistungen verzichten, würde das einen Zuwachs von 9,2 Prozent an „Arbeiterkindern“ auf dem Gymnasium bedeuten. Die Bewertung durch die Lehrkräfte wirke hier sogar „sozial ‚korrigierend’“, heißt es.

Die Autoren plädieren dafür, beim Übergang zwischen zwei Schulformen künftig „neben Schulnoten auch die Ergebnisse standardisierter Tests“ stärker zu berücksichtigen. Der für ungerecht befundene Einfluss der Lehrer und der Eltern soll offenbar so verringert werden. Fraglich ist allerdings, ob standardisierte Tests die Bewertungen wirklich gerechter machen – und ob man den Lehrern und Eltern nicht zutraut, selbst dazuzulernen und ihre eigenen Vorurteile kritisch zu hinterfragen.

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