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Stressforschung: Warum wir den Druck brauchen

Stress gilt in unserer Gesellschaft zu Unrecht als etwas Negatives. Er ist nicht nur notwendig, sondern auch erstrebenswert, sagen Forscher – wenn man mit ihm und sich umzugehen weiß.

Im Grunde ist das mit dem Stress ein einziges großes Missverständnis. Er habe sich schlicht vertan, gestand Hans Selye, der Forscher, der den Begriff prägte, 1977 in seinen Memoiren. In der Physik beschreibt das englische Wort „stress“ die Kraft, die auf ein Objekt wirkt. „Strain“ hingegen steht für die daraus resultierende Verformung dieses Körpers, für seine Reaktionen auf eine Belastung – genau das, was Selye analog beim Menschen zu benennen suchte.

Er habe nicht gut genug Englisch gesprochen, um den Unterschied zu kennen, erklärte Selye, der aus Wien stammend ins kanadische Montreal gekommen war. Klar definiert in der Physik, begann die Geschichte des Stresses in der Psychologie also mit einer Verwechslung. Es sollte eine Karriere voller Missverständnisse werden, die den Stress zum meistbeklagten Ärgernis der westlichen Hemisphäre gemacht hat. Zu Unrecht.

Als im Januar die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin den „Stressreport 2012“ veröffentlichte, war es einmal mehr so weit, schien dieser doch zu bestätigen, was viele Menschen längst zu wissen glaubten: Das Arbeitspensum in der modernen Welt überfordert immer mehr Menschen, macht sie krank. Mehr als die Hälfte der fast 18 000 Befragten gab darin etwa an, verschiedenartige Arbeiten gleichzeitig betreuen zu müssen und unter „starkem Termin- und Leistungsdruck“ zu leiden. Eine „Anti-Stress-Verordnung“ müsse her, forderten die Gewerkschaften.

Was genau starker Termindruck ist oder welche Arbeitsbelastung unzumutbar ist, das wurde in der Studie aber nicht näher definiert – und offenbar auch nicht in der zugrunde liegenden telefonischen Befragung. Die objektive Arbeitsbelastung ließ sich auf dieser Grundlage also gar nicht feststellen. Und auch von einer Zunahme der subjektiven Bewertungen konnte bei näherer Betrachtung keine Rede sein: Im Vergleich zu einer vorangegangenen Erhebung vor sechs Jahren sind die Zahlen sogar leicht gesunken. Die Überzeugung vieler Menschen, dass das Leben „immer stressiger“ wird, ist also mitnichten eine Tatsache.

Ohnehin dürfte das Klageniveau höchst unterschiedlich sein. „Keiner kann von außen bestimmen, was für den Einzelnen Stress ist“, sagt Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Göttingen. „Entscheidend ist die subjektive Bewertung.“ Ob etwas als Stressor eingestuft wird, hängt von den Erfahrungen ab, die der Mensch gesammelt hat, sagt der Hirnforscher. Was für den einen aufgrund seiner Erlebnisse handhab- und überwindbar ist, was er einordnen und mit Sinn versehen kann, kann einem anderen gänzlich überfordernd erscheinen und infolgedessen zu Stressreaktionen führen. Doch so anders die Anlässe auch sein mögen: Die Reaktionen, die dann im Körper ausgelöst werden, sind die gleichen, wie sie schon unsere ältesten Urahnen erlebt haben.

Auf die Adrenalin-Ausschüttung folgt Cortisol, das uns aufmerksam hält

Im Gehirn wird eine Reaktionskette ausgelöst, sagt Hüther. Das Nervensystem signalisiert dem Nebennierenmark, Adrenalin auszuschütten, Blutdruck, Puls, Hautwiderstand und Muskelaktivität steigen, die Darmtätigkeit ist gehemmt. Der Körper ist in Alarmbereitschaft. Mit „fight or flight“, Kampf oder Flucht, hat Walter Cannon, der zweite große Pionier der Stressforschung neben Selye, diese Reaktionen 1915 beschrieben – es geht um eine subjektive Bewertung von Gefahr. Frauen scheinen dabei allerdings weniger heftig zu reagieren als Männer und neigen zur Bewältigung offenbar auch eher zur Bildung von sozialen Netzwerken, wie neuere Studien der amerikanischen Psychologin Shelley Taylor nahelegen. „Tend and befriend“, Hüten und Befreunden, statt „fight or flight“, wohl evolutionär bedingt: Mit Nachwuchs kämpft und flüchtet es sich einfach schwerer.

Etwa zehn Minuten nach der Adrenalinausschüttung folgt dann Cortisol, das den Körper vor den ungünstigen Folgen einer zu langen Hochaktivierung durch Adrenalin schützen soll und gleichzeitig für eine erhöhte, länger anhaltende Wachsamkeit auf einem niedrigeren Niveau sorgt. Weil Adrenalin schwer messbar ist, wird häufig die Cortisolkonzentration im Speichel für Messungen des Stressniveaus herangezogen.

Stress bedeutet damit zunächst einmal nicht mehr, als dass der Körper in der Folge einer wahrgenommenen Belastung besonders leistungsbereit ist – eine Mobilisierung, die nicht nur bei einer Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit nützlich ist. „Ohne Stress würden wir uns gar nicht weiterentwickeln“, sagt Gerald Hüther. Belastung stärkt, Belastung stählt. Ein Immunsystem, das immer nur geschont wird, weiß nicht, wie es Angriffe abwehren soll. Wer keine Rückschläge erleidet, keine Krisen meistert, kann nicht über sich hinauswachsen und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickeln. Kurz: Wer keinen Stress erlebt, hält nichts aus.

Auch Helen Heinemann, Gründerin des privaten „Instituts für Burnout-Prävention“ in Hamburg, kann Stress viel abgewinnen: „Da bin ich superwach, superkonzentriert und kann alles, was unwichtig ist, fallenlassen“, sagt sie, ein „Wohlgefühl“ sei das, zunächst. Schwierig wird es, wenn sie die aufgebaute Spannung nicht zeitnah abbauen kann, sagt die Pädagogin mit psychotherapeutischer Ausbildung. Wegrennen, schreien, sich auf einen Baum retten: Im Büro geht all das nicht. Wir erleben zwar körperlich das Gleiche wie unsere Vorfahren in der afrikanischen Savanne, doch unsere Bewältigungsstrategien müssen zwangsläufig andere sein – wohldosierte Pausen zum Beispiel.

Heinemann bietet auf Initiative der Techniker Krankenkasse seit 2006 bundesweit Seminare an, die einem „tiefgreifenden emotionalen Erschöpfungszustand“ vorbeugen sollen. Mehr als 1100 Teilnehmer hat die Autorin des Buches „Warum Burnout nicht vom Job kommt“ geschult, vor allem Akademiker, die ihrem Wunschberuf nachgehen, aber aus der Balance geraten sind. „Im Adrenalinrausch merkt man einfach nicht, dass man auch Pausen machen muss“, sagt Heinemann, Auszeiten im Arbeitstag und im Arbeitsleben. Das Problem sei weniger die beklagte Verdichtung der Arbeit, sondern der Umgang damit: „Es sind die Leute selbst, die nicht Stopp sagen.“

Beim Stressreport 2012 etwa haben mehr als ein Viertel der Befragten angegeben, häufiger Pausen ausfallen zu lassen, obwohl diese nachweislich die Leistungsfähigkeit steigern. Für Heinemann auch ein Problem der vorherrschenden Arbeitskultur. Pausen und Leistung vertragen sich für die Deutschen nicht. In ihren Seminaren bemüht die Therapeutin häufig die Schöpfungsgeschichte: „Und Gott sah, dass es gut war“, heißt es da immer wieder. Das ist ein Selbstlob, ein Innehalten nach getaner Arbeit – ein Vorbild, auch für Nicht-Christen.

Es ist die Dosis, die das Gift macht, auch beim Stress, entscheidend sind Dauer und Intensität. So wirkt ein gewisses Maß an körperlicher Erregung beispielsweise positiv auf die Gedächtnisleistung. Ein hoher Stresslevel dagegen führt zum Gegenteil – wenn auch einige Studien nahelegen, dass Reize, die gedanklich mit der Gefahr verknüpft sind, dann besser behalten werden. Extreme Stresssituationen aber können sogar zu einem Verlust der Erinnerung führen, zu einer psychogenen Amnesie. Und Dauerstress, darin sind sich die Forscher einig, wirkt schädlich auf den gesamten Organismus.

Warum Gestresste klagen, aber nicht ihr Leben ändern

Der amerikanische Neuroendokrinologe Bruce McEwen sieht das Gehirn als „zentrales Organ der Stressreaktion“, das sich der Daueraktivierung durch eine Veränderung der neuronalen und neurochemischen Strukturen anpasst. Das wiederum erhöht das Risiko von depressiven Verstimmungen, erhöhtem Blutdruck, verminderter Leistungsfähigkeit und anderen mit anhaltendem Stress verbundenen Langzeitfolgen – Gesundheitsschäden für den Einzelnen und die Gesellschaft, die sich vermeiden lassen.

Dass so viele Gestresste sich trotz wiederholten Klagens schwertun, ihr Leben zu ändern, ist auch ein Resultat des Strebens nach Anerkennung. Man will jemand sein, sich etwas leisten können. Und vieles an ihrer Arbeit mache den Leuten, die zu ihr kommen, auch Spaß, sagt Heinemann. Sie sind im „Flow“, so der Begriff, den der Psychologe Mihaly Csykszentmihalyi 1975 prägte. Wer eine Tätigkeit erledigt, die er als in idealem Maße fordernd erlebt, empfindet eine tiefe, alles andere ausblendende Freude – ein Hochgefühl, das nicht selten dazu führt, dass das eigene Leben nur noch auf dieser einen Säule, dem Job, ruht. Auch weil sich die berufliche Rolle durch eine Klarheit auszeichnet, die es im Privatleben oftmals nicht gibt. Bei den meisten, die zu Heinemanns Seminaren kommen, ist die empfundene Überbelastung am Arbeitsplatz nur auf den ersten Blick das Problem.

Verschärft haben sich die Lebensbedingungen, die an uns zerrenden Belastungen in den vergangenen Jahrzehnten nicht - man denke nur an die Herausforderungen des Lebens in und nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber die Bewertung ist eine andere. Von einem „Machbarkeitswahn“ spricht Heinemann, von dem Gefühl: Jeder ist seines Glückes Schmied, trägt damit aber auch die Bürde des Scheiterns allein. Wer alles werden, alles erreichen kann, das aber dennoch nicht schafft, ist selbst schuld. Dabei stecken oftmals ungünstige Bedingungen dahinter, womöglich ein falscher, weil nicht passender Job.

Für Gerald Hüther ist Vertrauen deshalb eines der wichtigsten Mittel gegen Stress, auf dreierlei Ebenen: Vertrauen in eigene Kompetenzen, gestärkt durch das Überwinden von schwierigen Situationen. Vertrauen in das große Ganze, positive Erwartungen an das Leben, „Sinnhaftigkeit“, wie es in Aaron Antonovskys Modell der Salutogenese heißt. Und Vertrauen in andere, in Familie, Freunde, Vertraute, „psychosoziale Unterstützung“, wie Psychologen es nennen. Wenn dieser „dreibeinige Hocker“, wie Hüther sagt, stabil steht, „kann man da auch mit einem 50-Zentner-Sack hochsteigen“. Wenn die Beine dagegen dürre sind, der Hocker klapprig, reichen schon fünf Kilo, um einzubrechen.

Dass der soziale Zusammenhalt entscheidend beeinflusst, wie gestresst sich jemand fühlt, erscheint vor allem Schüchternen einleuchtend, ist aber tatsächlich noch ein relativ neues Forschungsgebiet. Erst seit etwa 15 Jahren beschäftige man sich verstärkt damit, sagt Jan Häusser, Psychologe an der Universität Hildesheim. Er will gemeinsam mit Andreas Mojzisch, Professor für Sozialpsychologie, herausfinden, wie sehr die Zugehörigkeit zu einer Gruppe Studenten stabilisiert. Die Annahme hinter dem Langzeitprojekt, das sich bis 2015 mit dem „Wir-Gefühl in sozialen Gruppen“ beschäftigt: Je größer die Identifikation eines Studenten mit seiner Bezugsgruppe ist, desto besser gelingt es ihm, mit dem Stress in der Ausbildung umzugehen. Als „Stresspuffer“ funktioniert die Gruppe allerdings nur, wenn man sich ihr zugehörig fühlt, sagt Häusser, durch gemeinsame Ziele etwa oder durch Ähnlichkeiten in Alter, Einstellungen, Vorlieben. Nur dann werden die Unterstützungsangebote der anderen als wohlwollend empfunden und nicht als Vorwurf interpretiert, man sei nicht in der Lage, das Problem allein zu lösen.

Für Stressforscher McEwen gehört soziale Unterstützung zu den eigentlich „einfachen und offensichtlichen“ Maßnahmen, mit denen man den schädlichen Langzeitfolgen von Dauerstress entgegentreten kann. Viel Schlaf, guten Schlaf, zählt er auch dazu, gesunde Ernährung, sportliche Betätigung, eine positive Lebenseinstellung. Doch so einfach sei es für die meisten Menschen dann eben doch nicht: Mancher braucht dabei professionelle Hilfe oder muss seinen Job wechseln. Und mancher betäubt die Folgen des schädlichen Lebensstils lieber mit Tabletten und schimpft auf den schlimmen Stress.

Hans Selye hat in einem Fernsehinterview einmal erklärt, seine Philosophie sei es, nur auf dem Stresslevel zu arbeiten, für das er geboren sei. „Ich habe ein recht intensives Bedürfnis zu arbeiten“, sagte Selye. „Ich brauche die Arbeit. Ich könnte ohne sie nicht existieren. Aber ich kämpfe nicht für Dinge, die ich nicht gewinnen kann.“ Anstatt den Stress grundsätzlich zu verteufeln, könnte es Menschen also helfen, ihn als eine Hilfe zu verstehen und als Mahnung, die eigenen Grenzen zu kennen und zu achten, seine Kräfte einzuteilen. Aber ganz abschaffen wollte er den Stress nie, sagt Selye. „Nur die Toten haben keinen Stress.“

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