zum Hauptinhalt
Die Renaissance mit ihrem humanistischen Menschenbild wurde zur eigentlichen Revolution für die moderne Wissenschaft.

© vitstudio - stock.adobe.com

"Sternstunden der Wissenschaft" von Lars Jaeger: Kultur des Zweifels, Tugend des Experiments

Hohelied des Zweifelns: Der Physiker und Philosoph Lars Jaeger widmet sich in seinem neuen Buch den „Sternstunden der Wissenschaft“.

„Das wirklich Erstaunliche ist, dass diese Entdeckungen überhaupt gemacht worden sind“, freute sich Albert Einstein in einem Brief an einen Freund. Diese Entdeckungen – damit meinte der geniale Physiker das „formal-logische System der euklidischen Geometrie“ und  das Konzept systematischer Experimente. Beides hat nicht nur die moderne Naturwissenschaft ermöglicht, sondern letztlich auch unser Leben reicher, bequemer und länger gemacht.

So weit, so gut. „Doch warum muss uns eine 16-jährige Schülerin aus Schweden daran erinnern, uns bei der Diskussion um den Klimawandel »an den Erkenntnissen der Wissenschaften zu orientieren«?“, fragt der Physiker, Mathematiker, Philosoph und Historiker Lars Jaeger in seinem gerade erschienenen Buch „Sternstunden der Wissenschaft. Eine Erfolgsgeschichte des Denkens“ (Südverlag 2020).

Anstrengend, sich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren

Seine Erklärung liegt darin, dass es anstrengend ist, sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren. Während Wissenschaftler das Motiv antreibt, in einer Welt voller Unsicherheiten rational und methodisch ihr Wissen über diese Welt zu vergrößern, sieht Jaeger zunehmend Stimmen von Menschen laut werden, die nach Bestätigung einfacher Glaubenssätze streben.

Nicht nur er ist darüber besorgt. „Die wachsende Skepsis gegenüber Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Einsichten ist brandgefährlich. Denn in einem Umfeld, in dem Wissenschaft offen diskreditiert wird, ist eine Lösung der Probleme unserer heutigen Zeit nicht möglich.“

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Jaeger setzt die Tugenden dagegen, ohne die Wissenschaft nicht zu haben ist: Zuallererst müssen Autoritäten auf den Prüfstand gestellt und Dogmen angezweifelt werden. „Erst als die Menschen den Mut fanden, sich gegen philosophische und religiöse Autoritäten aufzulehnen, war der Weg frei, über eigene Beobachtungen die Welt so zu erkennen, wie sie ist“. 

Eine "Erfolgsgeschichte den Denkens"

Selbstverständlich muss in einer „Erfolgsgeschichte des Denkens“ vom Werdegang und den Entdeckungen eines Kepler, Kopernikus und Galilei berichtet werden.

Der 965 in Basra geborene arabische Gelehrte Ibu al-Haithan, besser bekannt als Alhazen, legte Grundlagen der Optik.
Der 965 in Basra geborene arabische Gelehrte Ibu al-Haithan, besser bekannt als Alhazen, legte Grundlagen der Optik.

© mauritius images

Jaeger erzählt aber auch anschaulich, wie der 965 in Basra geborene arabische Gelehrte Ibu al-Haithan, besser bekannt als Alhazen, Grundlagen der Optik legte und dem englischen Franziskanermönch Roger Bacon, der im 13. Jahrhundert wirkte, den Weg zur Erfindung der Brille ebnete. Er überlegt, dass Nobelpreise, wären sie denn schon vor dem Jahr 1250  verliehen worden, vor allem an arabische Gelehrte hätten vergeben werden müssen und zeigt, dass Begriffe wie Algorithmus oder Algebra uns eigentlich daran erinnern müssten.

Er stößt seine Leserinnen und Leser auch auf die Geschichte der Mathematikerin und Philosophin Hypatia, die im Jahr  415 in einer Kirche in Alexandria entblößt und grausam ermordet wurde. Sie starb sozusagen unter umgekehrtem Vorzeichen, wurde als „Heidin“ Opfer eines christlichen Mobs. Ob man sie deshalb gleich zur frühen Feministin und Vorläuferin der Aufklärung stilisieren darf, ist eine andere Frage. Glücklicherweise tut Lars Jaeger dies nicht. Auch die Geschichte des mittelalterlichen Denkers und Mönchs Pierre Abaelard und seiner scharfsinnigen Geliebten Héloïse erzählt er spannend, aber nicht reißerisch: Helle Köpfe im „finsteren“ Mittelalter.

Das eigentliche Interesse: Die Renaissance

Jaeger macht deutlich, dass das Licht der naturwissenschaftlichen und von der Theologie unabhängigen philosophischen Erkenntnis in dieser Zeit nicht völlig erlosch:  „Die alles durchdringende christliche Kultur trug das Erbe des antiken griechischen Denkens in sich. Es war durch die christliche Dogmatik nur vorübergehend außer Kraft gesetzt.“ 

Sein eigentliches Interesse gilt indes den Jahrhunderten ab der Renaissance, als die wiederentdeckten alten Schriften zum Anstoß für die wissenschaftliche Revolution wurden. Neben das Kultivieren der Sprache der Mathematik und Logik trat nun als weitere Tugend zunehmend das Vertrauen in die eigene Beobachtung und die Bereitschaft zum Experiment.

Vier Tugenden der Wissenschaft

Als vierte Tugend sieht Jaeger das Anliegen der Wissenschaft, Wissen zum Wohl der Menschen anzuwenden. Bei den Beispielen dafür kann er aus dem Vollen der Geschichte des technologischen und des medizinischen Fortschritts schöpfen. Auch das Kapitel wirtschaftliche Interessen spart er nicht aus, in den Passagen zur Industrialisierung fällt mehrmals das Wort „Gier“.

„Sternstunden der Menschheit“ wie sie der Schriftsteller Stefan Zweig in seinen berühmten historischen Miniaturen literarisch beschrieben hat, sind es streng genommen nicht, was Jaeger uns aus der Wissenschaft anzubieten hat. Aber er hebt einen großen Wissensschatz und singt zugleich in ganz und gar weltlicher Weise das Hohelied des Zweifels in der Wissenschaft: „Sie ist nicht so erfolgreich, obwohl sie ständig Irrtümer korrigieren und Theorien verbessern muss, sondern weil sie es tut.“

Zur Startseite