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Neuer Glanz. Im Zentrum des gewaltigen Gebäudes der Staatsbibliothek Unter den Linden wurden nach Plänen von HG Merz neue Lesesäle errichtet – im Bild der Übergang vom Rara-Lesesaal zum Allgemeinen Lesesaal.

© Staatsbibliothek zu Berlin - PK / Jörg F. Müller

Staatsbibliothek: Alte Bücher und digitaler Wandel

Die Bauarbeiten in der Staatsbibliothek Unter den Linden sind beendet, am Dienstag werden die neuen Lesesäle feierlich wiedereröffnet. Die Generaldirektorin erklärt, warum wir auch im 21. Jahrhundert weiter Bibliotheken brauchen.

Zur Zukunft der Bibliotheken sind immer wieder zwei Fragen zu hören, die deren Zukunft radikal infrage stellen. Wozu braucht es kostspielige neue Lesesäle, in denen dann doch wieder nur alte Bücher stehen? Wozu all die Bauten, da alles digitalisierbar ist und so das Recherchieren von Informationen jenseits von Orten und Öffnungszeiten möglich wird?

Die Antwort liegt auf der Hand – sicher nicht nur aus Sicht großer staatlicher Büchersammlungen: Auch weiterhin haben wissenschaftliche Bibliotheken den Auftrag, sich neben dem Ausbau ihrer „digitalen Bibliotheken“ dem Sammeln und Bewahren des schriftlichen Wissenschafts- und Kulturerbes zu widmen und dieses in angemessenen Umgebungen mit modernen Dienstleistungen bereitzustellen. Wir werden uns noch lange in einer Übergangszeit befinden, in der das Arbeiten mit digitalem Material in digitalen Umgebungen rasant zunimmt, ohne dass zugleich das Buch seine Bedeutung verliert. Und selbstverständlich gehören alte Bücher in einen modernen Lesesaal. Denn dort präsentiert sich physisch, was Gesellschaften im Lauf der Jahrhunderte geschaffen haben.

In den Lesesälen kann der wissenschaftliche und kulturelle Reichtum in die Hand genommen werden, während man parallel in digitale Forschungsumgebungen „eintaucht“. In über 350 Jahren hat auch die Staatsbibliothek zu Berlin einen gewaltigen Kosmos an Literatur gesammelt, Handgeschriebenes, Gedrucktes, Digitalisiertes oder ausschließlich elektronisch Verfasstes – verschriftlichte Wissensproduktion aller Zeiten, aller Länder und aller Sprachen.

Für ein Land wie Deutschland ist es selbstverständlich, solchen unschätzbar wertvollen Sammlungen auch architektonisch-funktional Ausdruck zu verleihen. So betreibt die Berliner Staatsbibliothek zwei große Standorte, die ob ihrer Lage, ihrer Architektur und ihrer Inhalte große Reputation genießen. Am Kulturforum steht seit 1978 das von Hans Scharoun entworfene Bibliotheksgebäude mit seinem spektakulären Lesesaal, eine Architekturikone der Moderne. Unter den Linden verfügt die Staatsbibliothek über ein gewaltiges, 1914 eröffnetes Gebäude, in dessen Zentrum der vom Stuttgarter Architekten HG Merz entwickelte neue Lesesaal mit einem 36 Meter hohen Glaskubus erstrahlt.

Mit der Eröffnung eben dieses Lesesaals in dieser Woche wird die Profilierung der Allgemeinen Lesesäle, die sich inhaltlich ergänzen, endlich abgeschlossen: Während am Kulturforum die Forschungsbibliothek der Moderne mit frei zugänglicher Literatur aus der Zeit der Moderne bis zur Gegenwart angesiedelt ist, stehen Unter den Linden Bücher für die historische Forschung aus allen Epochen der Vormoderne, deren Abschluss die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert markiert.

Zurück zu den „alten“ Büchern: Nein, nicht jedes alte Buch ist unnütz, und viele sind gerade wegen ihres Alters und ihrer inhaltlichen Überholtheit wertvoll. Sicher hat ein medizinisches Fachbuch von 1900 im Lesesaal einer normalen Bibliothek nichts zu suchen, dort muss das neueste Standardwerk zu allen Zweigen der Medizin stehen. Doch eben dieses Buch von 1900 gehört unbedingt in die Sammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin, die Teil eines mehrstufigen Systems der bundesweiten Literaturversorgung ist. Keine Bibliothek bietet alles, aber alle gemeinsam können jeden Buch- und Datenbankwunsch erfüllen. Nur mithilfe des medizinischen Fachbuchs von 1900 sowie seiner vorhergehenden und nachfolgenden Ausgaben wird man die Genese bestimmter medizinischer Entwicklungen nachzeichnen können, die Wissenschaftsgeschichte braucht in allen Disziplinen solche Quellen.

Im digitalen Zeitalter wächst die Sehnsucht nach originalen Zeugnissen

Unbestritten ist, dass viele kulturelle und wissenschaftliche Inhalte erst mit ihrer Verbreitung über das Internet weithin bekannt werden. Künftig wird ein Forscher sich immer seltener zum Buch bewegen müssen, sekundenschnell gelangt die Literatur zu seinem Rechner. In der Breite wie in der Tiefe kann man durch den Digitalisierungsfortschritt immer mehr auch in unsere Sammlungen vordringen und neue Forschungsfragen aufwerfen. Das ist eine Entwicklung, die uns als Dienstleister der Wissenschaft außerordentlich interessiert und beflügelt. Ja, vor diesem Hintergrund kann man sich gut vorstellen, dass Lesesäle, wie wir sie heute kennen, mittelfristig nicht mehr benötigt werden. Ob es so kommen wird, kann niemand vorhersagen. Wir erleben aber, dass durch den digitalen Teil unseres Alltags das Verlangen nach den originalen Zeugnissen wächst, und so mancher Gang in den Lesesaal wird durch das digitale Medium erst ausgelöst.

Dass Digitalisierungsvorhaben aufwendig und langwierig sind, mag ein aktuelles Beispiel verdeutlichen. Als 1914 der Erste Weltkrieg begann, machte sich die Bibliothek an den Aufbau einer speziellen Kriegssammlung. Nichts sollte verloren gehen, alles Gedruckte, das sich in irgendeiner Weise mit dem Krieg befasste, sollte bewahrt werden: Schlachtenlieder, Agitationslyrik, propagandistische Karten, Schützengrabenzeitungen, Feldkochbücher, antifranzösische Kinderbücher und anderes. Etwa 40 000 Heftchen, Bücher und Broschüren haben die Zeitläufe überdauert. Seit drei Jahren läuft ein großes Digitalisierungsprojekt, Europeana Collections 1914-1918, neun weitere europäische Bibliotheken sind beteiligt. Bis 2014 wird man im Internet eine einzigartige Gesamtschau bislang unbekannten Materials vorfinden, das für alle Formen der Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg geeignet ist.

Nichts läge näher, als umgehend alle Materialien dieser Sammlung zu digitalisieren. Jedoch steht dem das deutsche Urheberrecht entgegen: Erst 70 Jahre nach dem Tod eines Verfassers dürfen die Werke via Internet zugänglich sein, momentan liegt die Zeitgrenze beim Jahr 1943. Wer 1915 einen Kriegsroman verfasste und zu diesem Zeitpunkt dreißig Jahre alt war, wurde 1885 geboren. Falls dieser Autor 75 Jahre alt wurde, verstarb er 1960, und damit ist dieses Werk dem aktuellen Projekt entzogen und erst 2030 rechtefrei. Nirgendwo anders als im Lesesaal Unter den Linden wird man also bis auf Weiteres den Reichtum dieser Kriegssammlung ergründen können.

Auf wissenschaftlichem Niveau Literatur besorgen geht nur in Bibliotheken

Alte Bücher in Lesesälen sind mehr als bedrucktes Papier mit Rückenschildern. Sie sind der von Bibliothekaren produzierte Mehrwert. Sie vermögen aus der Literaturproduktion Neues zu generieren, indem sie inhaltliche Schwerpunkte setzen, Titel auswählen und kategorisieren. Auch stehen sie als Informationsspezialisten bereit. Seit viele Forscher multidisziplinär arbeiten, müssen sie über das im Laufe der Jahrhunderte kumulierte Wissen anderer Disziplinen rasch den Überblick gewinnen. So ist es sicher eine reizvolle Aufgabe, die karibischen Reisen von Alexander von Humboldt nachzuzeichnen. Wer jedoch Preußische Geschichte studiert hat, sitzt vielleicht hilflos vor dem Computer, wenn er ergründen will, was Humboldt von Infektionskrankheiten in Mittelamerika wusste, welche Präventivmaßnahmen er ergriff und welche Behandlungsmethoden es in Europa im frühen 19. Jahrhundert gab.

Diese Fragen lassen sich vermutlich halbwegs überzeugend klären: Man kann ein Buch kaufen, Wikipedia-Beiträge lesen, in Internet-Foren helfen Hobby-Experten weiter, alles ohne die Hilfe einer Bibliothek. Jedoch, eben diese Bibliotheken haben den Vorteil, nicht nach Profit zu streben. Auf wissenschaftlichem Niveau Literatur zu beschaffen, ist derzeit jenseits von Bibliotheken nicht möglich, und was dort in den Lesesälen steht, ob alte oder neue Bücher, ist frei von Kommentaren und Bewertungen und repräsentiert kanonisiertes Wissen.

Wer den klassischen Bibliothekslesesaal totsagt, übersieht eine weitere wesentliche Facette: den Lernort. Nicht selten kommen Benutzer mit Laptops und privaten Büchern und genießen schlicht das Arbeiten im Lesesaal. Und warum soll dabei nicht die pure Anwesenheit der Bücher, auch wenn nicht unmittelbar gebraucht, den einen oder anderen daran erinnern, dass das Medium Schrift seit Jahrhunderten der Garant war für die Überlieferung und menschlichen Fortschritt?

Die Autorin ist seit 2004 Generaldirektorin der Staatsbibliothek zu Berlin.

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