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Eine Lehrerin spricht in einer Schulklasse mit jungen Erwachsenen.

© Thilo Rückeis

Sprachkurse für alle Flüchtlinge!: Sprache darf kein Grenzzaun sein

Warum wir in Zeiten von Flucht und Migration ein Recht auf Mehrsprachigkeit brauchen. Ein Gastbeitrag des Berliner Sprachwissenschaftlers Philipp Krämer.

„Sprachkenntnisse sind der Schlüssel zur Integration.“ Oder: „Wer nach Deutschland kommt, muss rasch die deutsche Sprache lernen.“ Solche Aussagen sind längst Allgemeinplätze geworden, auf die sich von rechts bis links alle politischen Lager verständigen können. Trotzdem gibt es im Umgang mit Flüchtlingen eine Regelung, die das exakte Gegenteil bewirkt: Mit der neuen Asylgesetzgebung wird Menschen aus Afghanistan und anderen Ländern mit niedriger Anerkennungsquote wie Somalia oder Pakistan der Zugang zu Deutschkursen verwehrt, zum Teil ganz gezielt mit absurden Rechentricks.

Deutschlernen ist Pflicht. Was aber, wenn das Recht erlischt?

Die Grenze liegt bei 50 Prozent anerkannter Anträge aus dem Herkunftsland. Nur wer aus einem solchen Land kommt, hat angeblich eine gute Bleibeperspektive und damit Recht auf einen frühzeitigen Spracherwerb. Die Quote für Menschen aus Afghanistan liegt sehr knapp unter der Marke, weil viele Anträge nicht berücksichtigt werden. Dies gilt etwa, wenn ein Antrag in einem anderen EU-Land behandelt oder erst nach erfolgreicher Klage gegen die Ablehnung positiv beschieden wird. Die „bereinigte Schutzquote“ ohne diese Irrdaten liegt für Afghanistan oder Somalia bei über 70 Prozent.

Seit Langem sind die eingangs genannten Formeln eine Chiffre für eine sprachliche Bringschuld: Wer sich hier aufhalten möchte, solle gefälligst Deutsch lernen. Der Akzent liegt auf der Pflicht, nicht auf dem Recht zum Spracherwerb. Schon die länger bestehenden gesetzlichen Regelungen zu Sprach- und Integrationskursen lesen sich wie ein engmaschiges Gitter aus Bedingungen und Verpflichtungen. So erlischt das Recht zur Kursteilnahme zwei Jahre nachdem der Aufenthaltstitel gewährt wurde. Wer danach noch Deutsch lernen will, ist auf sich allein gestellt oder muss auf freie Plätze und großzügige Behördenmitarbeiter hoffen.

Deutsch ist dominant bis zur Ausgrenzung Andersprachiger

Eine Teilnahmepflicht besteht unter anderem dann, wenn die Ausländerbehörde einen Menschen wegen „Integrationsbedarfs“ dazu auffordert. So werden viele Menschen ausgeschlossen, denen ein Deutschkurs wichtige Fortschritte bei der gesellschaftlichen Teilhabe ermöglichen würde, während andere sich der Entscheidung von Behörden über das notwendige Maß an Integration fügen müssen – wie auch immer man dies messen mag.

Sprachpolitik auf Bundesebene beschränkt sich neben den Regeln für Integrationskurse vor allem auf die plakative Forderung der Union nach einer Verankerung der deutschen Sprache im Grundgesetz – ein überflüssiges Symbol, schließlich ist das Deutsche ohnehin landesweit dominant bis zum Grad der Ausgrenzung Anderssprachiger. Was wir stattdessen brauchen, ist ein umfassendes Recht auf Mehrsprachigkeit.

Bislang nehmen ein echtes Recht auf Mehrsprachigkeit de facto vor allem deutsche Muttersprachler/innen in Anspruch, die in Schulen, Universitäten oder Volkshochschulen mit hohen, aber völlig berechtigten staatlichen Subventionen Fremdsprachen lernen können. Zudem wird der Deutschunterricht im Ausland gefördert, während man tausenden Menschen hier im Land den Zugang zum Deutschlernen systematisch versperrt.

Mehrsprachigkeit ins Grundgesetz!

Viele Migrantinnen und Migranten, die ohne Fluchtgeschichte nach Deutschland kamen, oder ihre Nachkommen, sind auf lokale Eigeninitiativen von Schulen oder Vereinen angewiesen, um etwa standard- und schriftsprachliche Kenntnisse der Familiensprachen durch Unterricht in Türkisch, Arabisch, Kurdisch oder Farsi auszubauen.

Ein wichtiges Bedürfnis wäre dies auch für unbegleitete Flüchtlinge im Kindes- und Jugendalter, die ohne ihre Eltern in Deutschland wenig Input in ihren Herkunftssprachen erhalten. Die Rechte all dieser Sprachgruppen auf eine umfassende Mehrsprachigkeit werden weitgehend ignoriert. Anstelle von „Deutsch ins Grundgesetz“ müsste die Devise lauten: „Mehrsprachigkeit ins Grundgesetz.“

Zwar schützt Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes unter anderem vor Diskriminierung aufgrund der Sprache. Doch gegen die Ungleichbehandlung von Mehrsprachigen ist dieses Schutzrecht bisher weitgehend wirkungslos. Die Sprache ist in diesen Fällen schließlich nicht unbedingt Grund der Diskriminierung, sondern eher ihr Gegenstand.

Eine Chance, zu partizipieren, solange man hier ist

Ein hinzugefügtes Recht auf Mehrsprachigkeit ließe sich mit konkreten Maßnahmen zur aktiven Förderung ausgestalten. Dazu sollte zum Beispiel der Anspruch auf Schulunterricht in der (zweiten) Muttersprache gehören, zumindest für Sprachen mit großer Sprecherzahl. Bei kleineren Sprachgruppen könnte das Recht durch Förderung privater oder ehrenamtlicher Initiativen gewährleistet werden. Ein weiteres Kernelement des Rechts auf Mehrsprachigkeit wäre der Zugang zum Erwerb des Deutschen für alle, die einen längerfristigen Aufenthalt in Deutschland anstreben.

Dies betrifft nicht nur reguläre Migration und anerkannte Flüchtlinge, sondern auch jene, über deren Antrag noch nicht entschieden ist. Ob dieser Aufenthalt tatsächlich so lange währen wird wie vorgesehen, ist dabei zweitrangig. Wer wieder ins Herkunftsland zurückkehren muss – angesichts der Bearbeitungsdauer von Asylanträgen ohnehin erst nach längerer Zeit –, muss dennoch die Chance bekommen, während des Aufenthalts in Deutschland am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Da das Asylrecht eine individuelle Prüfung voraussetzt und der Ausgang daher nicht vorherzusagen ist, gibt es keinen Grund, auf Basis von Pauschalregelungen anhand der Anerkennungsquote ganzen Menschengruppen den Zugang zur Sprache zu verstellen.

Keine Sprachpolitik auf Landes- oder Bundesebene

Sprachpolitik ist in Deutschland in der Regel an Kultur- und Bildungspolitik geknüpft und deshalb eine Kompetenz der Bundesländer. Das weithin unbekannte Bundessprachenamt ist trotz seiner umfassend klingenden Bezeichnung dem Verteidigungsministerium zugeordnet und organisiert ausschließlich Sprachmittlung beziehungsweise Sprachunterricht für die Bundeswehr. Eine systematische Koordination von Sprachpolitik für die gesamte Republik ist weder Aufgabe des Bundessprachenamts noch irgendeiner anderen zentralen Stelle. Dabei brauchen sprachpolitische Maßnahmen zwischen Länderebene, Bund und Europa eine wirksame Verzahnung.

Auch nur wenige Bundesländer haben derzeit eine nennenswerte Sprachpolitik, etwa jene mit „traditionellen“ Minderheiten wie Sachsen, Brandenburg und Schleswig-Holstein oder das Saarland mit seiner Frankreichstrategie. Eine durchdachte Berliner Mehrsprachigkeitspolitik ist nirgends erkennbar, obwohl in der Stadt eine ungeahnte Sprachenvielfalt herrscht.

Auch Migrantensprachen brauchen den Minderheitenschutz

Auf europäischer Ebene liegt mit der Charta der Regional- und Minderheitensprachen des Europarats bereits ein wichtiges Dokument vor, das von Deutschland ratifiziert wurde und sprachliche Rechte begründet. Aber auch die Charta deckt lediglich „traditionelle“ Sprachminderheiten ab und erfasst nicht die inzwischen stark vertretenen Sprachen der jüngeren Migrationszeit.

Solange eine Anerkennung der Rechte dieser Sprachgemeinschaften in Gesamteuropa nicht zu erreichen ist, muss Deutschland zumindest im eigenen Land für Abhilfe sorgen. Die Trennung zwischen „traditionellen“ und daher schutzwürdigen Minderheitensprachen und „neuen“ Minderheitensprachen ohne Schutzanspruch ist willkürlich: Ab wann wird eine „neue“ Minderheit zu einer „traditionellen“?

Diese Ungleichbehandlung sendet gegenüber den postmigrantischen Sprachgemeinschaften und den Geflüchteten der Gegenwart eine Botschaft der Ablehnung aus, die nicht zur vielbeschworenen Willkommenskultur passt. Es gilt, mit der halbherzigen und bruchstückhaften Sprachpolitik aufzuräumen, um Übersichtlichkeit, Gleichbehandlung und Rechtssicherheit zu schaffen.

Wir sind dabei, sprachliche Grenzzäune hochzuziehen

Das bisherige sprachpolitische Kuriositätenkabinett kann sich das Einwanderungsland Deutschland nicht länger erlauben. Während immer lauter über die Schließung der Grenzen debattiert wird, sind wir stetig und leise dabei, im eigenen Land sprachliche Grenzzäune hochzuziehen. Ohne eine zeitgemäße, ambitionierte Mehrsprachigkeitspolitik wird sich die Teilhabe aller hier lebenden Menschen an der Gesellschaft auf Dauer nicht verwirklichen lassen.

Der Autor ist Sprachwissenschaftler an der Freien Universität und Vorstandsmitglied des Interdisziplinären Zentrums „Europäische Sprachen“. Im laufenden Semester ist er Gastforscher an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er forscht u.a. zu Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt, Sprachpolitik und Spracheinstellungen.

Philipp Krämer

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