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Sprache: "Ha, du bist das Blöckende!"

Vom tierhaften zum menschlichen Menschen: Herders Betrachtungen über die Evolution der Sprache bedeuteten eine revolutionäre Abkehr von der Bibel.

Mit seinen Überlegungen zur Herkunft der Völker und der Sprachen von 1710 löste Gottfried Wilhelm Leibniz an der Berliner Akademie eine Diskussion über die Evolution der Sprache aus, die dort bis heute fortgeführt wird. Allerdings hieß das Problem im 18. Jahrhundert nicht „Evolution der Sprache“. Die Evolution gab es noch nicht – jedenfalls nicht in der Form, wie sie jetzt, im Darwin-Jahr, gleichsam selbstverständlicher Denkhintergrund des wissenschaftlichen Nachdenkens über die Sprachentwicklung ist.

Damals wurde nach dem „Ursprung“ der Sprache gefragt. Ob so etwas wie „Evolution“ daran teilhatte, das war gerade noch die Frage. Der berühmteste Text in dieser großen Tradition ist zweifelsohne Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 1772 – seine preisgekrönte Antwort auf die Preisfrage der Akademie.

Herder stellt sich darin den Sprachursprung folgendermaßen vor: Der noch nicht sprechende Ur-Mensch steht der Welt gegenüber. Anders als die Tiere, denen die Natur Instinkte zur Bewältigung des Lebens gegeben hat, hat der Mensch nur eine Fähigkeit: die „Besonnenheit“. Das ist eine allgemeine Fähigkeit zum Denken, die ein „Bedürfnis, kennenzulernen“ erzeugt, einen kognitiven Appetit. Da begegnet dem Menschen das Lamm: „Weiß, sanft, wollicht.“ Von allen sinnlichen Eigenschaften des Schafs dringt der Laut, den das Schaf von sich gibt, tief in die besonnene Seele ein. Weiter schreibt Herder: „Das Schaaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht – sie DIE SEELE](die Seele) sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es blöckt, und nun erkennet sies wieder! ,Ha! du bist das Blöckende!’ fühlt sie innerlich.“

Dieses „Ha! du bist das Blöckende!“ ist das innere Merkwort, es ist der erste Gedanke, und dieser ist Sprache: „Und was ist die ganze menschliche Sprache, als eine Sammlung solcher Worte? Käme er also auch nie in den Fall, einem andern Geschöpf diese Idee zu geben, und also dies Merkmal der Besinnung ihm mit den Lippen vorblöcken zu wollen oder zu können; seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblöckt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte, und wiedergeblöckt, da sie ihn daran erkannte – die Sprache ist erfunden!“

Die eher amüsante Szene kommt uns nicht gerade wie eine seriöse wissenschaftliche Behandlung des Themas vor. Niemand würde dies heute als wissenschaftlichen Text akzeptieren. Und dennoch handelt es sich, wie bei anderen, ähnlichen Geschichten der Philosophen des 18. Jahrhunderts, gerade um einen entscheidenden Schritt ins moderne wissenschaftliche Denken. Ohne diese Geschichten würden wir heute nicht über Evolution der Sprache sprechen.

Denn hier geht es um nichts weniger als um die Emanzipation von dem Buch, das das europäische Denken für Jahrhunderte behindert hatte, von der Bibel. Dass überhaupt die Frage nach dem Ursprung der Sprache gestellt wird, ist ein revolutionärer Schritt. Der Kirchenvater Augustinus hatte der Christenheit verordnet, nur den Worten der Heiligen Schrift zu lauschen und die Begierde nach Wissen zu unterdrücken, die er als eine Form sündiger Begehrlichkeit verunglimpft. Die europäische Menschheit wusste also, wie die Sprache entstanden ist, es stand ja in der Bibel. Nun wagt Europa endlich, die Augen zu öffnen und sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Aber die philosophischen Alternativen zur Bibel kommen ihrerseits noch als Geschichten daher. Gerade bei den vier wichtigsten Autoren des 18. Jahrhunderts, bei Vico, Condillac, Rousseau und Herder, wird das zentrale Ereignis, eben das In-die-Welt-Treten der Sprache, in Form von Narrationen von Ur-Szenen präsentiert. Diese Geschichten sind aber keine Ausgeburten bloßer Phantasie, sondern Geschöpfe alternativer Lektüren, insbesondere antiker nichtchristlicher Schriften, und vor allem der Verwendung des eigenen Verstandes: Es sind Geschöpfe der Aufklärung. Es sind Versuche, zu verstehen, wie es denn gewesen sein könnte, wenn man einmal die Bibel beiseite lässt. Es gibt keinen Grund, diesen Geschichten nicht den Ehrentitel von „scenarios“ zu geben, in denen der Evolutionsbiologe Ernst Mayr wichtige heuristische Instrumente moderner Forschung erkennt. Es sind Szenarien der Wissenschaft gegen die mythischen Szenen der Religion.

Die philosophischen Sprachursprungsgeschichten stellen evolutionäre Prozesse dar. Die evolutionäre Perspektive allein ist schon eine kühne Abkehr von der Bibel, wo Gott einen fertigen Menschen schafft, der sprechen kann und der nur noch Wörter für Gottes Geschöpfe finden muss. Diese alternativen Geschichten setzen alle vor dem biblischen Auftreten eines fertigen Menschen ein. Sie imaginieren tierhafte Urmenschen, von denen nichts in der Bibel steht, und sie erzählen den Übergang vom tierhaften zum menschlichen Menschen. Dieser Übergang ist die Sprache. Für die moderne Evolutionsbiologie heute ist sie der letzte der großen Übergänge der Evolution.

Herders Geschichte ist des weiteren voll tiefer theoretischer Einsichten. Diese entfalten sich eher innerphilosophisch, im Streit der Aufklärungsphilosophen untereinander. Gegen den französischen Philosophen Étienne Bonnot de Condillac, der den Sprachursprung aus einer kommunikativen Situation entfaltet, inszeniert Herder ein kognitives Geschehen. Bei Condillac ist der nichtsprechende Urmensch A nicht allein, sondern in Gesellschaft des ebenfalls nichtsprechenden Urmenschen E. A hat ein physisches Bedürfnis – Hunger, Durst –, das er nicht befriedigen kann. Er wendet sich mit einer Gebärde dem begehrten Objekt zu und stößt dabei einen Schrei aus, den „cri des passions“. E beobachtet dieses passional-expressive Verhalten und kommt daraufhin dem A zur Hilfe. Aus dieser kommunikativen Interaktion entstehen allmählich Sprache und andere Zeichen des Menschen.

Nach Herder aber geht die menschliche Sprache gerade nicht aus solchem Kommunizieren von Passionen hervor. Denn das tun auch die Tiere. Bei der menschlichen Sprache geht es dagegen darum, die Welt zu denken, Vorstellungen von der Welt zu bilden. Das ist für Herder die primäre Funktion der Sprache. Deswegen ist schon das inwendige Wort, der Gedanke – „Ha du bist das Blökende“ –, Sprache. Gedanke und Sprache sind ein und dasselbe.

In diesen beiden Momenten, Kognitivität und Interiorität, ist Herder der Sprachauffassung des amerikanischen Linguisten Noam Chomsky nahe, die sich ansonsten allerdings radikal hiervon unterscheidet. In der Sprache der modernen Gehirnforschung gesagt, sieht Herder, dass Sprache nicht primär ein limbisches, sondern ein kortikales Geschehen ist (und im weiteren Verlauf der Abhandlung, dass beide unauflöslich zusammengehören). Und in der Opposition zwischen Condillac und Herder haben wir schon die Opposition zwischen „Kommunikativisten“ und „Kognitivisten“, die für die heutige Sprachursprungsdiskussion charakteristisch ist.

Kurzum: das Herdersche Szenario ist alles andere als eine harmlose Geschichte, sondern eine ziemlich differenzierte Theorie der Sprache, die in der welterschließenden, kognitiven Funktion der Sprache das eigentlich Menschliche der Sprache erkennt und diese Einsicht in einen evolutionären Prozess einbringt.

Natürlich ist das evolutionäre Szenario noch nicht im Denkmodus der modernen evolutionären Biologie vorgetragen. Darwin wird die Vorstellung zerstören, dass sich das, was hier ja eindeutig als Erfindung des Menschen dargestellt wird, also etwas Kulturelles, gleichsam in das menschheitliche Erbgut einschreibt, das heißt, er wird evolutionäre Vorstellungen zerstören, die wir heute lamarckistisch nennen. Dennoch: Gegenüber den Wahrheiten der Bibel wird hier evolutionär gedacht, und das ist das Entscheidende.

Der Autor hat an der Jacobs Universität Bremen einen Lehrstuhl für Mehrsprachigkeit in Europa inne und war Professor für romanische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

Jürgen Trabant

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