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Jugendliche sitzen in einer Reihe an einem Arbeitstisch und hantieren mit ihren Smartphones.

© picture alliance / dpa

Update

Sinus-Jugendstudie 2016: Generation Mainstream

Rebellion, Provokation? Das war gestern. Heute sehen sich Jugendliche in der gesellschaftlichen Mitte - und sie machen sich für Vielfalt stark.

„Mainstream“ ist ein Schlüsselbegriff, wenn sich Jugendliche selbst beschreiben. Sie wollen so sein „wie alle“ und beziehen sich dabei auf einen gemeinsamen Wertekanon. Dabei geht es um Freiheit, Toleranz und soziale Werte, die aus der Sicht der Jugendlichen das „gute Leben“ in Deutschland ausmachen. Das sind zentrale Ergebnisse aus der neuen Sinus-Jugendstudie, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Hier artikuliere sich „ein Wunsch nach Orientierung in einer unübersichtlichen globalisierten und digitalisierten Welt, die von Konflikten geprägt ist“, sagt Studienautor Marc Calmbach.

Befragt wurden 72 Jugendliche in qualitativen Interviews

Nach den ersten Studien von 2008 und 2012 zeige sich erneut, dass es „die“ Jugend nicht gibt. Die 14- bis 17-Jährigen lebten nach wie vor in unterschiedlichen Lebenswelten. Aber sie rückten stärker zusammen. So nehme die Akzeptanz von gesellschaftlicher Vielfalt zu. Der überwiegende Teil ist für die Aufnahme von Flüchtlingen und fordert mehr Engagement für Integration. Generell seien „Werte wie Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe enorm wichtig für die Jugendlichen“, sagt Calmbach. Auftraggeber der Studie sind unter anderem die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung und die Bundeszentrale für politische Bildung.

Die Studie ist "psychologisch repräsentativ"

Die Ergebnisse der Sinus-Studie stimmen weitgehend mit denen der im Oktober 2015 veröffentlichen 17. Shell-Jugendstudie überein. Wie berichtet sieht die Mehrheit der Jugendlichen Zuwanderung positiv und hat ein „stabiles Wertesystem“. Anders als die Shell-Studie, für die gut 2500 Jugendliche befragt wurden, ist die Sinus-Jugendstudie nicht repräsentativ. Statt auf eine breit angelegte Umfrage setzt das Institut mit Sitz in Heidelberg und Berlin auf qualitative Interviews. Befragt wurden von Juli bis Oktober vergangenen Jahres 72 Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren. Sie erhielten zunächst einen Fragekatalog, den sie als „Hausaufgabe“ beantworteten, bevor junge Sozialwissenschaftler sie zwei Stunden lang interviewten. Zusätzlich setzte das Sinus-Institut erstmals jugendliche Befrager ein, die Gespräche mit ihren besten Freundinnen und Freunden aufzeichneten.

"Ein bisschen mehr Reibung wäre wünschenswert"

Ein weiteres Element sind Fotodokumentationen der Jugendzimmer und insbesondere von „Hausaltären“ – Arrangements persönlich bedeutungsvoller Gegenstände. Insofern sei die Studie zwar nicht statistisch, dafür aber „psychologisch repräsentativ“, heißt es. Zur Auswahl der Jugendlichen teilt das Institut mit, es seien je 24 Mädchen und Jungen befragt worden, die den Hauptschulabschluss, den Mittleren Schulabschluss und das Abitur anstreben. Von ihnen hatte jeweils ein unterschiedlich großer Anteil einen Migrationshintergrund (mehr Hauptschüler, weniger Gymnasiasten). Die regionale Herkunft erstreckt sich quer durch die Republik. Prozentanteile werden aufgrund der kleinen Zahl der Befragten nicht veröffentlicht.

Jugendkulturen, die auf Abgrenzung und Provokation zielen, sind in der befragten Altersgruppe kaum noch zu finden. Selbst die musikalische Rebellion gegen die Eltern sei kein Thema mehr, sagt Calmbach. Erstmals seien beide Seiten „popkulturell sozialisiert“. Womöglich wäre „ein bisschen mehr Reibung, die ja auch Kreativität erzeugt, wünschenswert“.

Ein Teil der Jugendlichen hegt Ressentiments gegen Ausländer

Als Ausreißer aus dem Mainstream identifizieren die Meinungsforscher aber in Teilen der Jugend solche, die „Ressentiments und ausgrenzende Haltungen gegenüber Menschen anderer nationaler Herkunft und sozialen Randgruppen“ äußern. Dabei handele es sich um „tradierte Stereotype“, die von den Jugendlichen nicht als solche erkannt würden.

Dies fügt sich in eine von sieben „Lebenswelten“ ein, die das Sinus-Institut beschreibt: Wer aus einer „prekären Lebenswelt“ komme, sei häufig „anfällig gegenüber rechtspopulistischen Klischees und extremen politischen Positionen“. Andere Lebenswelten sind etwa die „konservativ-bürgerliche“, die „sozialökologische“ oder die der „Experimentalistischen Hedonisten“. Letztere neigen wie die „Prekären“ zu weniger angepassten Lebenszielen. Sie wollen „ungehinderte Selbstentfaltung, möchten das Leben in vollen Zügen genießen, Grenzen überschreiten und Regeln brechen“.

Der Mainstream wünscht sich eine bürgerliche Normalbiografie

Als vorherrschende Lebenswelt identifizieren die Forscher indes die „adaptiv-pragmatische“. Hier tummelt sich „der leistungs- und familienorientierte moderne Mainstream mit hoher Anpassungsbereitschaft“. Diese Jugendlichen „sehen sich als verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger, die dem Staat später nicht auf der Tasche liegen wollen“. Ihre Ziele sind eine „bürgerliche Normalbiografie und Wohlstand, jedoch kein übertriebener Luxus“. Von Menschen mit geringerer Leistungsbereitschaft grenzen sie sich deutlich ab.

Religiöse Heterogenität im Freundeskreis? Akzeptiert

Doch woher kommt dann die für die junge Generation ebenso kennzeichnende „Akzeptanz von Vielfalt“? Die Autoren der Studie erklären, dass das Konzept der „postmigrantischen Gesellschaft“ – also eines neuen deutschen Miteinanders, in dem weniger als früher nach Einheimischen und Zugewanderten kategorisiert wird – unter den 14- bis 17-Jährigen weitverbreitet sei. Dabei wird etwa religiöse Heterogenität im Freundeskreis akzeptiert beziehungsweise gar nicht mehr wahrgenommen. Wichtig sei aber eine „gemeinsame Wertebasis“. Sie werde auch aktiv gefordert, etwa in Hinblick auf die Akzeptanz sexueller Vielfalt.

Junge Muslime distanzieren sich vom radikalen Islamismus

Deutlich abgelehnt wird religiös begründete Gewalt. Die befragten muslimischen Jugendlichen hätten sich geradezu demonstrativ vom radikalen Islamismus distanziert, sagt Peter Thomas, Mitautor der Studie. Auch bei ihnen habe sich zudem religiöse Toleranz als Norm gefestigt. Während die Muslime aber offensiv zu ihrem Glauben stehen und der Moscheebesuch ebenso selbstverständlich dazugehört wie religiöse Feste in der Familie, sind Jugendliche mit christlichem Hintergrund gegenüber der Kirche skeptischer eingestellt. Ein Ergebnis, auf das zwei weitere Auftraggeber der Studie, der Bund der Katholischen Jugend und die Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, mit mehr konkreten Angeboten für Jugendliche reagieren wollen, etwa im Engagement für Flüchtlinge.

Kritische Konsumenten, die weiterhin billig einkaufen

Dass Jugendliche zwar auch den Parteien misstrauen, sich aber wieder verstärkt für Politik interessieren, hatte schon die Shell-Studie ergeben. Die vom Sinus-Institut Befragten treiben vor allem Umweltschutz und kritischer Konsum um. Viele möchten etwas gegen Kinderarbeit tun, sehen sich aber macht- und vor allem mittellos. Ihr Taschengeld reicht nun einmal nicht für fair gehandelte Kleidung.

Bei historischen Themen ist das Interesse der 14- bis 17-Jährigen begrenzt. Sie verbinden „Geschichte“ mit negativ besetzten historischen Ereignissen, vor allem mit dem Zweiten Weltkrieg. Zugang zur Geschichte finden sie am ehesten durch Berichte von Zeitzeugen.

Erste Anzeichen einer "digitalen Sättigung"

Was zweifellos alle Jugendlichen eint, ist die intensive Nutzung digitaler Geräte. Doch in den starr aufs Smartphone gerichteten Blick mischen sich Zweifel. Vor allem in „bildungsnahen Lebenswelten“ erwarte man von der Schule, über den richtigen und sicheren Umgang mit digitalen Medien aufgeklärt zu werden. Erstmals wünschen sich die Jugendlichen auch „Entschleunigung“. Die Autoren der Studie sprechen von Anzeichen einer „digitalen Sättigung“.

Lesen Sie zur Sinus-Jugendstudie 2016 hier auch den Meinungsbeitrag meiner Kollegin Maria Fiedler.

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