zum Hauptinhalt
Vorlesung aus dem „Werther“. Der fiktive Herausgeber des Goethe-Frühwerks empfahl den Lesern, das Buch als ihren Freund anzusehen in Zeiten der Einsamkeit und Melancholie. Das Bild zeigt ein Gemälde Wilhelm Ambergs.

© bpk/Nationalgalerie

Serie "Identitäten" - erste Folge: Das erlesene Ich

Was macht Lesen mit uns? Und was machen wir aus unserem Lesen? Im ersten Teil der neuen geisteswissenschaftlichen Serie im Tagesspiegel über Identitäten beschreibt FU-Präsident Alt, wie uns Lektüren formen.

Die Geschichte lesender Romanfiguren ist lang. Von Cervantes’ Don Quixote, Rousseaus Julie und Goethes Werther über Flauberts Emma Bovary und Wildes Dorian Gray bis zu Thomas Manns Tonio Kröger und Canettis Peter Kien reicht ihre keineswegs vollständige Reihe. Das Wort „Reihe“ darf man durchaus wörtlich nehmen, denn die Lektüre-Inszenierungen des neuzeitlichen Romans folgen dem Leitfaden der Literaturgeschichte.

Julie, die Protagonistin der „Nouvelle Héloise“ Rousseaus, liest die Epen Torquato Tassos, um an ihrem Gefühlsheroismus Maß zu nehmen. Jakob Michael Lenz’ Hofmeister Läuffer arrangiert sein unglückliches Gefühlsleben nach dem Vorbild von Rousseaus Roman. Goethes Werther erschießt sich neben seinem Pult, auf dem aufgeschlagen Lessings „Emilia Galotti“ liegt. Jean Pauls selbstsüchtiger Täuschungskünstler Roquairol aus dem „Titan“ tötet sich als „Werther“-Epigone. Heinrich Lee, Kellers „Grüner Heinrich“, versenkt sich voller Enthusiasmus in Jean Pauls Texte. Und in Peter Handkes „Kurzem Brief zum langen Abschied“ studiert der Protagonist wiederum Kellers Roman, während er durch die Weiten Nordamerikas reist.

Lektüren erzeugen Echo- und Resonanzräume, in denen die Romanfiguren Muster für ihre Selbstentwürfe gestalten. Gelesen wird dabei aus verschiedensten Gründen; Lektüre schafft Gedächtnis und Vergessen, stiftet Orientierung und Verwirrung, setzt Begeisterung und Schwermut frei, baut eingebildete Welten auf und trägt zugleich die äußeren ab. Was die Literatur vorführt, ist Maßstab auch für die reale Kulturgeschichte des Lesens. In ihr dient die Lektüre nicht allein der Entrückung, sondern zugleich der Herausbildung des Ich – einer Identität, die keine Grenzen kennt.

Die Einsicht, dass Lesen den Menschen präge, ist neuer als man denken mag. Sie entstammt dem Prozess der Aufklärung, der in ganz Europa einen Alphabetisierungsschub und mit ihm eine neue Kultur des Lesens auslöste. In Mittelalter und Früher Neuzeit bildeten Akte der Lektüre entweder Teile des gelehrten Studiums oder – in aristokratischen Kreisen seit der Renaissance – Elemente geselliger Kommunikation. Erst mit dem 18. Jahrhundert trat verbreitet das Phänomen des stillen Lesens zum Zweck der Unterhaltung auf.

Lektüre war fortan auch eine Möglichkeit der Flucht vor der Gemeinschaft und ein Mittel zum Rückzug in die Innenwelten der Phantasie. Lesen erschien als Sucht, der jüngere Menschen aristokratischer und bürgerlicher Herkunft, vor allem aber Frauen unterlagen. Pädagogen und Pfarrer verfolgten diese Entwicklung mit Skepsis und Kritik; getadelt wurde insbesondere die Lektüre moralisch verderblicher Liebesromane und die Zeitverschwendung, die das Lesen bedeute. Als geeignete Gegenmittel empfahl man regelmäßige Arbeit, kalte Bäder und christliche Andacht in geselliger Runde.

Das lesende Individuum, das im Verlauf der Romanlektüre mit seiner Phantasie allein ist, galt den orthodoxen Kritikern als Opfer erhitzter Einbildung und fortschreitender Realitätsflucht.

Zur Abwehr solcher Gefahren entstand im Zeitalter der Aufklärung eine Diätetik der Lektüre. Der Hauslehrer St.Preux rät seiner Schülerin Julie in Rousseaus „Nouvelle Héloise“, die eigene Ideenwelt von der des Buches abzuheben, sie zu reinigen und zu vervollkommnen, ohne aber Selbst- und Fremderfahrung zu verwechseln. Im Hintergrund steht hier die Lesesucht-Debatte der Zeit: Riskant wird das Lesen dann, wenn es kleine Fluchten aus der Wirklichkeit anbahnt, zu falscher Nachahmung und fataler Identifizierung führt.

Die jungen Männer, die in blauem Frack und gelber Weste ihrem Leben nach dem Vorbild ihres Idols Werther mit der Pistole ein Ende setzten, boten dem späten 18. Jahrhundert das abschreckende Beispiel für diese Form der Grenzüberschreitung. Dabei nahmen sie nur wörtlich, was der fiktive Herausgeber der Werther-Geschichte im Vorwort seinen Lesern gewünscht hatte: Dass sie das Buch als ihren Freund ansehen mögen in schlechten Zeiten der Einsamkeit und Melancholie. Die Abkapselung des Lesenden gebiert Ungeheuer – die Monstren einer Phantasie, die Realität und Fiktion vertauscht. Das Freiheitsversprechen der modernen Lesekultur, das Lektüre zum Selbstentwurf werden lässt, zeigte am Beispiel des „Werther“-Fiebers seine Kehrseite. Kein Zufall, dass man in Deutschland über dieses Phänomen erregt diskutierte. Hier stand mehr auf dem Spiel als nur der Debütroman eines jungen Autors, der sich sein eigenes Liebesunglück in einer Geschichte mit schlimmem Ausgang von der Seele schrieb. Man debattierte die Grundfrage der neuen Buchkultur: ob Lektüre ein gefährliches Rauschmittel oder – wie bei Rousseau – ein Therapeutikum im Dienste aufklärerischer Erziehung sei.

Lesehunger, so erkannten schon Zeitgenossen Goethes, kann ein zwiespältiges Phänomen bilden. Insbesondere Romanlektüre lädt zu Missbrauch und Manipulation ein. Noch in unseren Tagen hören wir immer wieder von den fatalen Folgen, die falsch verstandene Leserlebnisse auslösen können. Verbrecher, die sich auf de Sade, Dostojewskij oder Brett Easton Ellis berufen, gibt es ebenso wie Verirrte, die im Namen von Romanfiguren handeln.

Während des Lesens sind wir nicht einer, sondern viele, und der Weg zurück in die Realität mag manchem schwerfallen. Aber die im Lesen vollziehbare Öffnung des Ich bietet auch faszinierende Möglichkeiten der Bereicherung, die alle Schranken der Erfahrung und des Wissens überschreitet.

Das moderne Ich, dessen Geburtstunde in der Aufklärung schlug, stützt sich auf unterschiedliche Rollen- und Identitätsentwürfe. Es ist so angelegt, dass es sich in Prozessen der Reflexion, der Einbildung, der Selbststilisierung, der Maskerade und Täuschung vervielfältigen kann. Lesen initiiert solche Formen der Anreicherung, indem es dazu beiträgt, das Ich mit seinen unentdeckten Möglichkeiten zu konfrontieren.

Lektüre bedeutet nicht zuletzt, die innere Geschichte des Ich permanent zu erweitern. Wir sind, was wir lasen. Unsere Identität entsteht durch die Historie unserer Lektüren. Autoren wie Pynchon, Auster und Ellis spielen in ihren postmodernen Texten mit der Macht, die Literatur auf unsere psychische Identität ausübt, indem sie ihre Helden in die Labyrinthe einer Welt schicken, die sich aus den Kulissen der Literaturgeschichte zusammensetzt. Der Film „Stranger than Fiction“ hat dieses Spiel vor einigen Jahren sehr liebevoll fortgesponnen. Sein Held findet sich eines Tages als Hauptfigur in einem Roman wieder, der gerade erst entsteht und auf ein tragisches Ende programmiert zu sein scheint. Die Welt ist ein Buch und unser Leben eine Ansammlung unterschiedlichster Erzählmodelle, in denen wir uns zurechtfinden müssen.

Leser haben es folglich besser, denn sie erkennen die fiktionalen Muster, denen unser Dasein unterliegt. Schon Leibniz beleuchtete diese Analogie, als er den Romancier in einem Brief an den Herzog Anton Ulrich von Braunschweig mit Gott verglich, der uns eine Geschichte erzählt, deren Aufbau wir nicht gleich auf den ersten Blick durchschauen. „Es ist ohne dem eine von der Roman-Macher besten künsten, alles in verwirrung fallen zu laßen, und dann unverhofft herauß zu wickeln. Und niemand ahmet unsern Herrn beßer nach als ein Erfinder von einem schöhnen Roman.“

Die übertragene Anwendung dieser Einsicht lautet: Wer liest, lernt die Welt in ihren Windungen jenseits der eigenen Erfahrung gründlicher kennen. Er darf nicht nur mit veränderlichen Identitäten experimentieren, sondern auch ein Wissen erwerben, das es ihm erlaubt, existentielle Gefahren frühzeitig zu erahnen. Das wäre die lebenspraktische, die präventive Seite des Lesens. Die zweite besteht im Effekt der Realitätsflucht und kann das Risiko des Scheiterns bergen.

Eine historische Urszene, die das offenbart, stammt aus dem Russland-Krieg 1812. Sie zeigt uns Napoleon Bonaparte, der nach dem Einzug im Moskauer Kreml tagelang auf dem Sofa liegt und Romane liest. Durch verheerende Feuerbrünste verschlechtert sich die Versorgungssituation in der Stadt rapide, aber der Kaiser lebt eingeschlossen in seiner Lektüre-Welt, zu klaren strategischen Entscheidungen unfähig.

An dem Punkt, da ihn die historische Realität auf die letzte Stufe des Ruhms führt, entdeckt Napoleon die höhere Macht der Einbildungskraft. Die äußeren Feinde und die Widrigkeiten der Wirklichkeit scheinen ihm gleichgültig zu sein. Es ist die literarische Phantasie, die am Ende der Geschichte siegt. Mit allen Gefahren und Abgründen, die sie jenseits ihrer Freiheitsverheißungen für die Identität des modernen Menschen bereithält.

Peter-André Alt

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false