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Mach's mit... Bei manchen Aktivitäten stören Masken wirklich sehr. Meist aber sind sie nicht wirklich lästig - und der richtige Stoff, dem Virus nicht allzu viele Chancen zu geben.

© imago images/Hans Lucas

September als Schlüsselmonat der Pandemie: Wie wir über den ersten Corona-Winter kommen, entscheidet sich jetzt

Die Wochen zwischen Sommer und Herbst waren schon immer - unbemerkt - die vielleicht wichtigsten des Jahres. 2020 ist das mehr denn je so. Ein Essay.

Eigentlich war es wie immer. Pünktlich zum 1. September war er da, der Herbst. Die erste richtig kühle Nacht mit teilweise weniger als zehn Grad im Berliner Umland, dichter weißer Watte-Nebel über Wasser und Wiesen, nach Süden ziehende Gänse und Schwalbenversammlungen auf Drähten und Bäumen, abflugbereit.

Trotzdem fühlt es sich dieses Jahr anders an.

Der Septemberanfang 2020 ist nicht so hell, nicht so erholt, nicht so erfüllt von morgendlicher Frischluft und voller Aufbruch wie sonst. Er fühlt sich schon jetzt anders an als jeder andere, den die meisten heute Lebenden je erlebt haben.

Der eigentliche Jahresanfang

Für viele ist im September der eigentliche Jahresanfang, und nicht am völlig willkürlichen 1. Januar. In weiten Teilen Deutschlands begann immer verlässlich am ersten des Monats das Schuljahr, einen Tag vorher waren alle noch im Freibad gewesen. Die Ferien, der Urlaub waren die eigentliche wirkliche Zäsur im Jahr. Wenn man Glück hatte, hatte man sich frei gefühlt in dieser Zeit, tief durchgeatmet, viel anderes und viele andere gesehen, erlebt, erspürt, berührt.

Der September war Neuanfang mit gefüllten Akkus.

Man will, dass es sich auch dieses Jahr wieder so anfühlt. Aber es geht nicht.

September 2019

„Do you remember?“, so beginnt „September“, der bekannteste Song der Soul- und Funk-Band „Earth, Wind and Fire“.

Erinnern wir uns noch wie es war, letztes Jahr Anfang September? Ein Tiefdruckgebiet kam pünktlich zum ersten und kühlte weite Teile Deutschlands ab, obgleich es nicht ganz bis Berlin kam. Ein runder Jahrestag des Kriegsanfangs wurde mit vielen Veranstaltungen begangen. Eine Judo-Weltmeisterschaft begann. SPD-Mitglieder versammelten sich zu Regionalkonferenzen auf der Suche nach einer neuen Parteispitze. In Brandenburg wurde – meist im Wahllokal – gewählt. Im norditalienischen Venedig gab es Filmfestspiele.

Alles ziemlich normal. Und niemand störte sich daran, dass Judoka, angereist aus aller Herren Länder, heftig atmend Nahkampf praktizierten, die Genossen in stickigen Sälen eng an eng saßen oder im Kinosaal der Platz nebenan ebenfalls besetzt war. Ein normaler Septemberanfang. Heute ist all das – und vieles andere – undenkbar.

[Ein Jahr Corona? Lesen Sie bei Tagesspiegel Plus, warum das Virus womöglich schon länger als gedacht kursiert.]

Der Sprung

Die Ursache dafür, dass heute vieles anders ist, liegt aber vielleicht in eben jenem so vermeintlich normalen September 2019. Denn möglicherweise fand er schon damals statt, der Sprung des Virus, das heute Sars-CoV-2 heißt, von einem Tier zum Menschen. Jedenfalls deuten darauf Erbgutanalysen hin. Genau weiß das niemand, aber wir können – mit einer ähnlichen Unsicherheit, wie sie uns bei so vielen Aspekten dieser Pandemie-Krise begleitet – jetzt inoffiziell auf „Ein Jahr Covid-19“ zurückblicken.

Und vorausblicken in den ersten richtigen Winter dieser Pandemie.

Der September ist ohnehin immer ein Monat der Bilanz und der Vorbereitung. Die Ernten sind weitgehend eingefahren. Man weiß also schon, ob die Gunst oder Widerborstigkeit der Natur kombiniert mit Anstrengungen der Menschen dafür gesorgt haben, dass man einigermaßen über den Winter kommen wird. Aber es bleibt auch noch etwas Zeit, notwendige Vorkehrungen zu treffen.

Gemischte Bilanz , unsicherer Ausblick

Im September 2020 tun wir all das zum ersten Mal auch im Zusammenhang mit einer globalen Pandemie. Wie haben wir die Zeit, seit sie ausbrach, wie haben wir den Sommer genutzt? Sind wir auf den Winter gut vorbereitet?

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Sie fällt gemischt aus, die Bilanz, und beginnt mit den mittlerweile fast einer Million Menschen, die mit oder an dem Virus – meist unter großem Leid – gestorben sind, mit den fast 10 000 Todesopfern in Deutschland. Sie beinhaltet die noch längst nicht feststehende Zahl von Menschen, die an Folgeschäden leiden werden. Sie geht weiter mit denen, die die Behandlung anderer gesundheitlicher Probleme hintanstellen mussten. Sie ist auch eine – katastrophale – wirtschaftliche Bilanz, mit allen schon spürbaren oder auch noch zu erwartenden Folgen auch für die Gesundheit. Und auch ihr ökologischer Part fällt nicht so ironisch-positiv aus wie oft berichtet. Denn nicht geflogene Flüge, nicht produzierte Produkte und deshalb nicht ausgestoßenes Kohlendioxid sind nur die eine Seite.

Auf der anderen steht ein deutlich von Klimakrise, Artensterben oder Bodenzerstörung weggelenkter Fokus der öffentlichen und politischen Aufmerksamkeit. Von den Abermillionen Masken, die schon jetzt zusätzlich zu Plastiktüten in den Ozeanen schwimmen und an die Strände gespült werden, ganz zu schweigen.

Pandemie gebremst, dann losgelassen

Teil der Bilanz ist aber auch, dass schneller als je zuvor Impfstoffe entwickelt werden, dass Virus und Krankheit, die anfangs ein komplettes Mysterium waren, mittlerweile einigermaßen gut wissenschaftlich untersucht sind, dass es Ärzten nun gelingt, schwere Krankheitsfälle deutlich besser zu behandeln als am Anfang der Pandemie.

Teil der Bilanz ist, dass es unter anderem in Deutschland im Frühjahr gelungen ist, unter großen Anstrengungen die Ausbreitung des Virus ziemlich effektiv einzudämmen.

Teil der Bilanz ist aber auch, dass es nicht gelungen ist, dieses Momentum zu erhalten und dass das Virus schon jetzt, am Ende des Sommers, sich wieder verbreitet.

Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:

Wir haben den Sommer genutzt. Aber eben für das, wofür wir ihn immer genutzt haben – in der Illusion, dass alles wieder so sein könnte wie immer. Schon Ende des Frühjahrs begannen wir, von „Corona“ in der Vergangenheitsform zu sprechen. Dann fuhren wir in den Urlaub, viele ein bisschen vorsichtiger als früher, andere nicht.

Noch ist Zeit

Jetzt ist September. Bald Dezember. Wir werden viel drinnen sein. Dort, wo das Virus sich über die Luft am leichtesten verbreitet. Kinder kehren in Klassenräume zurück, eng an eng und auch sonst fast wie immer. Junge Leute kehren in ihre WGs zurück. Immer mehr Leute auch in Büros, Werkstätten, Fabrikhallen.

Jetzt, im September, wäre noch Zeit, Vorkehrungen für den Winter zu treffen. Zum Beispiel, sich individuell so zu verhalten und politisch die Dinge so zu regeln, dass, wenn der Winter wirklich losgeht, Deutschland mit einer niedrigen Infiziertenzahl in ihn hinein startet.

Das wäre wichtig. Es würde auch sehr viel Leid verhindern, individuelles, soziales, gesellschaftliches, ökonomisches. Was das konkret bedeutet, daran sollten wir uns eigentlich noch erinnern.

[Kommt nach den Sommerferien in Deutschland die zweite Welle? Wir analysieren, warum die Neuinfektionen in manchen Landkreisen wieder zunehmen.]

Do we remember?

Allein, einsam, isoliert, aller Zärtlichkeit und Liebe beraubt sterbende alte Menschen sind eine dieser Erinnerungen.

Es geht auch um Liebe

Der Song „September“, er spielt eigentlich im Dezember. Jemand blickt zurück auf die Ereignisse drei Monate zuvor. Und natürlich geht es nicht um Masken, Abstandhalten oder das Lüften von Klassenräumen. Sondern um Liebe.

Um Liebe – oder eben Gleichgültigkeit und Egoismus – geht es aber letztlich auch im Umgang mit Corona. Um das zu begreifen, müssen wir uns nur an jene einsam Sterbenden erinnern.

Im Dezember werden wir – die ersten Meldungen über die Viruskrankheit kamen am Silvestertag 2019 – auch offiziell auf ein Jahr Corona zurückblicken. Die Frage, ob wir im September die richtigen Weichen gestellt haben, wird am Jahresende für die Praxis und für sehr viele Menschen aber sehr viel bedeutsamer sein als dieses Datum.

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