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Sommer in Schweden: Eine Badestelle in Stockholm am Mittwoch.

© Stina Stjernkvist/AFP

Update

Schweden als Corona-Risikoland eingestuft: Staatsepidemiologe wirft WHO Fehldeutung von Daten vor

Viele Tote, ein hohes Infektionsgeschehen: Nun setzt die WHO Schweden auf eine Liste von elf besonders gefährdeten Ländern – und erntet von dort scharfe Kritik.

Die Weltgesundheitsbehörde WHO hat Schweden auf eine Liste von elf Ländern gesetzt, die sie in der Coronavirus-Pandemie als besondere Risikogebiete einstuft. In 30 Ländern sei die Zahl der Fälle in den vergangenen zwei Wochen gestiegen, sagte der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Henri Kluge. „In elf von diesen Ländern hat der Anstieg zu einer so deutlichen Erhöhung geführt, dass die Gesundheitssysteme an den Rand ihrer Belastungsgrenze geführt werden“, so Kluge weiter.

Schweden findet sich auf der am Donnerstag veröffentlichten WHO-Liste mit Ländern wie Armenien, Moldawien, Nordmazedonien, Aserbaidschan, Kasachstan, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kirgistan, Ukraine und Kosovo wieder.

Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell, Chefberater der rot-grünen Minderheitsregierung von Premier Stefan Löfven, wehrte sich am Freitag im öffentlich-rechtlichen Radio gegen die Entscheidung. „Dies ist eine totale Fehldeutung der schwedischen Daten“, sagte er. Die WHO-Liste berücksichtige nicht die Nuancen des schwedischen Testansatzes. „Wir haben eine erhöhte Anzahl von Fällen, weil wir seit vergangener Woche sehr viel mehr testen“, sagte Tegnell.

„Aber wir können uns alle anderen Parameter ansehen, die wir messen, das heißt, wie viele schwere Fälle wir haben und wie viele Einweisungen auf Intensivstationen, sie gehen zurück“. Auch die Sterblichkeitsrate sinke. „Es sterben nicht mehr als sonst zu dieser Jahreszeit“, sagte Tegnell.

Den Angaben der schwedischen Behörden zufolge ist das Gesundheitssystem seit Beginn der Pandemie nie an seine Belastungsgrenze gekommen. Die Zahl der Intensivbetten sei immer ausreichend gewesen.

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Die WHO habe nur auf einen Parameter geschaut, sagte Tegnell. Dies sei ein Fehler, denn dadurch werde die Statistik irreführend. „Es ist unglücklich, Schweden mit Ländern zu vermischen, die zuvor überhaupt keine Probleme hatten und offenbar erst am Anfang ihrer Epidemie stehen.“

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Die WHO hätte sich vermutlich einfach in Stockholm melden sollen, dann hätte man ihr ein detaillierteres Bild der schwedischen Situation geben können, sagte Tegnell. Dies sei besonders auch wegen der gerade beginnenden Reisezeit unglücklich. Schwedische Staatsbürger dürfen wegen des Infektionsgeschehens beispielsweise weiterhin nicht in Nachbarländer einreisen.

WHO lenkt teilweise ein

Die WHO lenkte später teilweise ein. Wie das schwedische Fernsehen SVT berichtete, hob die Organisation in einer ihr vorliegenden E-Mail mehrere positive Trends in Schweden hervor: Die Zahl schwerwiegender Corona-Fälle gehe ebenso zurück wie die der Todesfälle.

Während die Fallzahlen tatsächlich wegen zunehmender Tests angestiegen seien, sei der Anteil positiver Tests stabil geblieben – nämlich bei 12 bis 13 Prozent. Es handele sich also nicht um ein höheres Ansteckungsgeschehen. Aber: Allgemein sei die Zahl der neuen bestätigten Fälle pro 100.000 weiterhin hoch, und ein allgemeines Infektionsgeschehen liege vor, so die WHO.

Pikanterweise hatte die WHO Schweden noch Anfang als Mai als Vorbild für andere Regierungen genannt, die ihr Land aus einem Lockdown führen müsse. Schweden sei hier ein „Zukunftsmodell“.

„Infektionsgeschehen höher als in anderen Ländern Europas“

Tom Britton, Mathematikprofessor von der Universität Stockholm, der mit der Gesundheitsbehörde zusammenarbeitet, teilt die Auffassung von Tegnell, dass das Infektionsgeschehen nicht zunimmt. „Wenn man doppelt so viel testet, entdeckt man mehr Fälle, auch wenn es keine Steigerung gibt“, sagte er der Zeitung „Dagens Nyheter“. Die Ansteckungszahlen seien im Gegenteil langsam auf dem Weg nach unten, „leider etwas zu langsam“, fügte Britton hinzu. „Es ist zweifellos so, dass das Infektionsgeschehen zurzeit höher ist als in anderen Ländern Europas.“

Aktuell werden für Schweden 63.890 bestätigte Infektionsfälle gemeldet, 6274 pro eine Million Einwohner. Insgesamt wurden in dem Land bisher 444.607 Tests durchgeführt. In den vergangenen zwei Wochen wurde die Anzahl auf wöchentlich mehr als 60.000 gesteigert.

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Ursprüngliche Prognosen von Tegnell und seines Teams, dass in der besonders von der Pandemie betroffenen Hauptstadt schon im Mai 20 Prozent der Einwohner immun sein könnten, bestätigten sich nicht. Am Donnerstag veröffentliche die Stockholmer Karolinska Universitätsklinik Ergebnisse einer neuen Studie, der zufolge 17 Prozent der Bürger dort Antikörper entwickelt hatten. Die Laborchefin der Klinik, Claes Ruth, sagte der Zeitung „Dagens Nyheter“, dies sei das Niveau, das sie erwartet habe. „Das deutet daraufhin, dass wir eine große Verbreitung des Virus hatten.“

Schweden hat hohe Mortalitätsrate

Das Land mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern meldete am Freitag 5280 Tote und hat damit eine der weltweit höchsten Covid-19-Mortalitätsraten. Mit 513 Toten pro eine Million Einwohner liegt Schweden den Zahlen der Johns-Hopkins-Universität zufolge deutlich vor den USA (380) und verzeichnet wesentlich mehr als die Nachbarstaaten Norwegen (47), Dänemark (104), Finnland (59) oder auch Deutschland (108).

Die Zahl der Todesfälle ist allerdings seit dem Höhepunkt Mitte April, als täglich im Schnitt rund 100 neue Covid-19-Tote gemeldet wurden, deutlich rückläufig. Aktuell liegt die Zahl bei etwa 20 bis 30. Aber die Todeszahlen gehen deutlich langsamer zurück als in den meisten anderen westeuropäischen Staaten.

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Tegnell hatte einen Lockdown für Schweden stets abgelehnt. Schwedens Regierung und die Gesundheitsbehörde setzten seit Beginn der Pandemie mehr auf Appelle als Verbote. Sie forderten die Bürger auf, soziale Kontakte zu minimieren und Abstand zu halten.

Menschen über 70 sollten zu Hause bleiben. Kindergärten und Schulen für Kinder unter 16 Jahre waren bis zu den Ferien, die seit dem 10. Juni und noch bis Mitte August andauern, in Betrieb. Geschäfte sind geöffnet. Dies gilt unter Auflagen auch für die Gastronomie. Versammlungen sind bis zu 50 Personen erlaubt. Die Menschen sollen im Homeoffice arbeiten und bei Symptomen auf jeden Fall daheim bleiben.

Dass besonders ältere Menschen durch das Coronavirus gefährdet sind, war in der Pandemie relativ schnell klar. Eines der wichtigsten Ziele der schwedischen Strategie war daher, Ältere besonders zu schützen. So wurde, allerdings erst Anfang April, ein striktes Besuchsverbot für Senioren- und Pflegeheime erlassen.

Anders Tegnell, Staatsepidemiologe der Gesundheitsbehörde.
Anders Tegnell, Staatsepidemiologe der Gesundheitsbehörde.

© Fredrik Sandberg/TT News Agency/AP/dpa

Mitte der Woche erneuerte Tegnell sehr deutlich seine Einschätzung, dass dieser Teil der Strategie gescheitert sei. Die Todesrate in den Heimen sei „schrecklich“, sagte der 64-Jährige in einer sehr populären Radiosendung. „Wir dachten vermutlich, dass unsere alters-segregierte Gesellschaft uns erlauben würde, eine Situation zu vermeiden wie in Italien, wo verschiedene Generationen viel häufiger zusammenleben. Aber das erwies sich als falsch.“ Die vielen Toten unter den Senioren hätten vermieden werden müssen.

Mehr als 70 Prozent aller Covid-19-Toten Pflegebedürftige

Einer Studie zufolge, die im Social Science Research Network in der letzten Mai-Woche veröffentlicht wurde, machen die Pflegebedürftigen – Stand Mitte Mai – mehr als 70 Prozent aller schwedischen Covid-19-Toten aus. Allerdings ist die entsprechende Zahl auch in anderen Ländern hoch.

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Die vielen Toten in Schweden dürften noch andere Gründe haben. Der Schluss, dass das Virus viel weiter verbreitet ist, als in anderen Ländern, die sich für einen Lockdown entschieden hatten, liegt nahe. Für eine Einschätzung, ob Schwedens Weg grundsätzlich falsch war, dürfte es noch zu früh sein, da unklar ist, ob und wenn ja, welche Länder eventuell von einer zweiten Welle der Pandemie getroffen werden.

Tegnell geht davon aus und betont stets, Schweden brauche dies nicht zu fürchten. Die Zahl der Covid-19-Toten wird sich seiner Meinung nach angleichen.

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Tegnell war wegen seiner Strategie schon früh auch von anderen Wissenschaftlern im Land scharf kritisiert, sein Rücktritt gefordert worden. Der Staatsepidemiologe verteidigt zwar nach wie vor grundsätzlich den schwedischen Ansatz, hat zuletzt aber erkennen lassen, dass auch Schweden vielleicht ein paar schärfere Restriktionen hätte erlassen sollen.

Am Donnerstag deutete er nun einen Kurswechsel beim Thema Masken an. Der Wirtschaftszeitung „Dagens Industri“ sagte er: „Wir müssen mehr darüber nachdenken. Aber Masken werden definitiv in keiner Weise zu einer optimalen Lösung“, sagte er im Interview. Es gebe bestimmt Situationen, in denen es wohl besser sei, wenn man einen Mund-Nasen-Schutz tragen würde, umso eine Verbreitung des Virus zu verhindern, erklärte er weiter.

Zuvor hatte Tegnell das Tragen von Masken kategorisch ausgeschlossen, da es nicht genügend wissenschaftliche Belege für deren Wirksamkeit gegeben habe. Zudem befürchtete er, Menschen würden sich mit Maske zu sicher fühlen, so dass andere Vorschriften vernachlässigt werden würden. Auch die WHO war vor Kurzem umgeschwenkt und empfiehlt nun Gesichtsmasken vor allem in überfüllten Einrichtungen.

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