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Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Susanne Eisenmann (M), Bildungsforscher Wilfried Bos und Staatsekretärin Cornelia Quennet-Thielen bei der Vorstellung der Iglu-Ergebnisse.

© Britta Pedersen/dpa

Schlechte Ergebnisse bei Iglu 2016: Deutsche sind ratlos beim Lesen

Wie kommt es zum Absturz bei Iglu? Experten streiten über die Gründe, etwa über die Frage, welche Rolle der Migrantenanteil spielt.

„Es hätte erheblich mehr passieren können“: Der Erziehungswissenschaftler Wilfried Bos, Leiter der internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu), sparte nicht mit Kritik an der deutschen Bildungspolitik, als er die Ergebnisse der Studie präsentierte. Zwar müsse Deutschland nicht „in Sack und Asche gehen“. Schließlich sind die Leseleistungen der Viertklässler konstant geblieben. Dass aber viele Länder vorbeigezogen sind, der Anteil der schwachen Leser sogar steigt, hält Bos für besorgniserregend.

Angesichts der Tatsache, dass viele in der Studie benannte Risikozonen des deutschen Bildungssystems seit Langem bekannt sind – wie der hohe Einfluss der sozialen Herkunft auf die Schulleistungen –, gab Susanne Eisenmann, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, eine gewisse Ratlosigkeit zu: „Wir haben bisher nicht die richtigen Antworten gefunden.“ Da schon der IQB-Bundesländervergleich für die Grundschulen im Oktober nicht gerade gut ausfiel, seien die Ergebnisse aber nicht überraschend. Hier zentrale Befunde der Iglu-Studie (die vollständigen Ergebnisse finden Sie hier).

Wo Deutschland steht

Deutschland liegt knapp unter dem Mittelwert der OECD-Länder und dem der EU – aber noch deutlich über dem internationalen Mittelwert aller Teilnehmerstaaten. Während sich aber elf Staaten seit der ersten Erhebung im Jahr 2001 teils enorm verbessert haben (Beispiele sind Russland, Singapur, Slowenien, Polen und Irland), stagniert Deutschland und wird von vielen überholt.

Schwer tun sich Viertklässler in Deutschland mit Sachtexten, etwas besser sieht es bei literarischen Texten aus.

Immerhin: Die Lesemotivation in Deutschland ist generell gut. „Viele Kinder haben Spaß am Lesen“, sagte Bos. Fast zwei von drei Kindern lesen mindestens eine halbe Stunde täglich außerhalb der Schule. Allerdings ist der Anteil der lesemotivierten Schüler seit 2011 um sieben Prozent auf 70 Prozent gesunken. Mädchen lesen besser als Jungen, der Unterschied ist aber eher gering.

Woran es hapert

Deutschland gehört zu den wenigen Ländern mit einer sehr großen Spannbreite der Leistungen. Die Differenz zwischen den fünf Prozent leistungsstärksten und -schwächsten Kindern beträgt 257 Punkte und ist EU-weit nur in Malta signifikant größer. Als ideal gilt ein hohes Niveau mit geringer Streuung, doch in Deutschland ist diese Leistungsheterogenität sogar gewachsen.

Die höchste Kompetenzstufe fünf erreichen elf Prozent der Schüler – immerhin zwei Prozent mehr als 2001. In Ländern wie Finnland, Irland und Polen gibt es aber rund 20 Prozent sehr gute Leser. Und genauso ist in Deutschland der Anteil der Schüler gestiegen, die die Kompetenzstufe drei nicht schaffen: 19 Prozent sind es inzwischen – fast vier Prozent mehr als 2011. Ihnen drohen den Iglu-Forschern zufolge in der weiterführenden Schule „erhebliche Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern“. Schlechter als für Deutschland sieht es EU-weit nur für Frankreich, Belgien und Spanien aus. Wenn so viele Schüler am Ende der Grundschule nicht richtig lesen könnten, müsse die Leseförderung in der Sekundarstufe I verstärkt werden, sagte Bos. Das sei eine „Riesenaufgabe“, denn in der Regel seien Sekundarschullehrer darauf nicht vorbereitet.

Ein großes Problem bleibt, dass in Deutschland der Schulerfolg in besonderem Maße von der sozialen Herkunft abhängt. Deutschland sei es seit 2001 nicht gelungen, „den Anspruch auf Chancengleichheit im Bildungssystem zu realisieren“, heißt es in der Studie. Deutschland gehört zu den vier Ländern, bei denen diese Disparitäten sogar zugenommen haben. Der Leistungsvorsprung von Kindern aus Familien mit mehr als hundert Büchern beträgt 54 Punkte – gut ein Lernjahr. Kinder, bei denen beide Eltern im Ausland geboren sind, liegen 48 Leistungspunkte hinter dem Schnitt. Bei gleicher Leistung haben Kinder aus bildungsnahen Familien eine 3,4-mal höhere Chance auf eine Gymnasialpräferenz wie Kinder von Facharbeitern – 2001 lag der Wert erst bei dem 2,6-Fachen.

Was international passiert

Für die Berliner Grundschulprofessorin Renate Valtin ist Irland der „Shooting-Star“. Wie Deutschland sei die Insel von der ersten Pisa-Studie geschockt worden, habe daraus aber viel weitreichendere Konsequenzen gezogen: konsequente Sprachförderung im Elementarbereich, die Einführung eines umfassenden Ganztagsschulsystems, gravierende curriculare Änderungen, mehr Elternarbeit. Bei Iglu 2016 ist Irland jetzt bestes EU-Land.

Was aus der Studie folgt

An der Frage, inwieweit die Inklusion und der größer werdende Migrantenanteil für die Ergebnisse verantwortlich sind, schieden sich die Geister. KMK-Präsidentin Eisenmann verwies genau darauf: So sei der Anteil der Grundschüler mit Migrationshintergrund seit 2011 von 27 Prozent auf jetzt über ein Drittel gestiegen: „Hier unterscheidet sich Deutschland von anderen EU-Ländern.“

Bos widersprach: „Das ist nicht der Hauptgrund.“ Das „A und O“ sei immer noch ein guter Unterricht. In Ganztagsschulen könnte theoretisch auf jeden Schüler eingegangen werden: „Doch da wird viel zu wenig guter Unterricht erteilt.“ Bos kritisierte zudem, dass Förderprogramme kaum evaluiert werden, ob sie wirksam sind: „Man kann fünf Leseförderprogramme haben, und die sind trotzdem alle Mist.“ Eisenmann gab zu, dass das „Sammelsurium“ von Fördermaßnahmen in der Tat oft ein Problem darstelle.

Für Renate Valtin sind die „deprimierenden Iglu-Ergebnisse eine Quittung für die Vernachlässigung der Grundschule durch die Bildungspolitik“. Nach wie vor seien der Elementar- und Grundschulbereich „Stiefkinder“ bei den Bildungsausgaben. In der vierten Klasse finde zu wenig anspruchsvoller Unterricht statt. All das müsse sich ändern, ansonsten verliere Deutschland weiter den Anschluss.

"Das Iglu schmilzt": Einen aktuellen Kommentar zum deutschen Abschneiden lesen Sie hier.

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