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Bilder der Hirngefäße eines Patienten kurz nach dem Schlaganfall und nachdem die Blutzufuhr wieder hergestellt war.

© SPL

Schlaganfall: Zeit kostet Hirn

Je schneller ein Schlaganfall behandelt wird, desto größer sind die Chancen, ihn gut zu überstehen. Doch viele Menschen scheuen davor zurück, rechtzeitig die Feuerwehr zu rufen.

Anruf bei der „Deutschen Schlaganfallhilfe“: „Ich hab' Ihre Nummer von einer Nachbarin. Die haben Sie beraten, als Ihre Mutter nach einem Schlaganfall wieder nach Hause gebracht wurde. Ich glaube, jetzt hat's meinen Mann erwischt. Ganz plötzlich ist er zu schwach, um aufzustehen, er redet ganz verwaschen und sein rechter Mundwinkel hängt so schief herunter. Aber er will nicht, dass ich die Feuerwehr rufe, er wird ganz böse, wenn ich das sage. Was soll ich bloß machen?“ Darauf die Beraterin: „Wollen Sie, dass Ihr Mann Ihnen nicht böse ist und dass er dann tot ist? Rufen Sie sofort die Feuerwehr an und sagen Sie, dass Ihr Mann höchstwahrscheinlich einen Schlaganfall hat. Die stellen Ihnen ein paar Fragen und dann kommt gleich ein Rettungswagen und bringt Ihren Mann in eine ‚Stroke Unit’. Das ist eine Schlaganfall-Spezialstation, und je schneller er dort gezielt behandelt wird, umso besser sind seine Chancen. Also jetzt sofort 112 wählen, ich habe schon viel zu lange geredet!“

Gespräche wie dieses führe sie häufiger, sagt die Frau, die bei der Schlaganfallhilfe arbeitet und nicht namentlich genannt werden will. Häufig zögerten die Menschen, die Feuerwehr anzurufen. Dabei zählt bei einem Schlaganfall jede Minute. Die Sauerstoffzufuhr zu einem Teil des Gehirns ist unterbrochen. Durch Sauerstoffmangel sterben in kurzer Zeit Millionen der empfindlichen Nervenzellen. „Time is brain“, sagen die Neurologen deshalb: Zeit ist Hirn. Die Erfolgsaussichten einer fachgerechten Behandlung sind in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen – vorausgesetzt, die Behandlung beginnt rasch. Noch vor kurzem mussten sich Ärzte darauf beschränken, die Folgen eines Schlaganfalls wie Lähmungen, Sprech-, Seh- oder Schluckstörungen zu mildern. Erst seit die verschiedenen Formen des „Hirnschlags“ besser erforscht und vor allem durch Untersuchungsverfahren wie die Computertomografie zu unterscheiden sind, lässt sich in vielen Fällen die unterbrochene Blut- und damit Sauerstoffversorgung einer Hirnregion wiederherstellen. Je schneller dies geschieht, desto mehr Nervenzellen können vor dem Absterben bewahrt werden.

Auch Kinder kann der Schlag treffen

Typische Alarmsignale für einen Schlaganfall sind zum Beispiel Sehstörungen wie etwa Doppelbilder, Probleme beim Sprechen, plötzlich auftretende Lähmungen auf einer Körperseite, extrem starke Kopfschmerzen, die mit Übelkeit und Erbrechen einhergehen, und plötzlich einsetzender Schwindel. Raucher und Menschen mit Fettstoffelwechselstörungen, Diabetes, Bluthochdruck oder Herzkrankheiten sind besonders gefährdet. Meist sind ältere Menschen betroffen, aber sogar Kinder kann der Schlag treffen.

Mehr als 200 000 Menschen in Deutschland erleiden jedes Jahr einen Schlaganfall. Es ist die häufigste Ursache erworbener Behinderungen im Alter. 80 bis 90 Prozent der Schlaganfälle entstehen, weil die Schlagader, die eine Hirnregion mit Blut und damit mit Sauerstoff versorgt, plötzlich nicht mehr durchgängig ist: wegen arteriosklerotischer Ablagerungen, die einen Blutpropf (Thrombus) gebildet haben, oder weil ein wanderndes Blutklümpchen (Embolus) sich in einem Gefäß festgesetzt hat (siehe Grafik). Die Blutgerinnsel lassen sich aber oft auflösen. Der Nutzen dieser „Thrombolyse“, kurz „Lyse“, ist wissenschaftlich gesichert, seit die nationalen Gesundheitsinstitute der USA, die „National Institutes of Health“, 1995 eine große Studie dazu veröffentlichten.

Leider ist die Lyse nicht bei jedem Schlaganfall anwendbar; prinzipiell ohnehin nur beim „Hirninfarkt“, also wenn, wie beim Herzinfarkt, ein Blutgefäß verschlossen ist. Bei einer Minderheit der Schlaganfallpatienten (10 bis 20 Prozent) ist ein Blutgefäß nicht verstopft, sondern gerissen. Bei solchen Hirnblutungen bedrängen die heraussickernden Blutmassen die Nervenzellen und zerstören sie schnell. Die „blutverdünnende“ Lysebehandlung, die ohnehin ein Blutungsrisiko bedeutet, würde hier die Hirnblutung noch verstärken. Deshalb müssen die Klinikärzte den Patienten trotz aller Eile erst noch im Computertomografen untersuchen, um eine Hirnblutung als Schlaganfallursache auszuschließen.

Nicht immer ist eine Lyse möglich

Selbst beim „Hirninfarkt“ ist eine Lyse nicht in jedem Fall möglich. Besteht wegen einer Verletzung, einer Operation oder durch Medikamente eine zu hohe Gefahr einer Blutung, können Ärzte die Thrombolyse-Mittel nicht anwenden. Und kommt der Patient zu spät in die Klinik, kann die Therapie nichts mehr ausrichten. Noch vor kurzem galt es nur in den ersten drei Stunden nach einem Hirninfarkt als möglich, ein verschlossenes Blutgefäß medikamentös wieder durchgängig zu machen. Jetzt versucht man es in einem Zeitfenster von bis zu viereinhalb Stunden nach dem Schlaganfall, in verzweifelten Fällen auch später. Aber dann sind die Erfolgsaussichten nur noch sehr gering.

„Die Lyse ist das A und O in der Akutphase“, sagt Otto Busse, Generalsekretär der Deutschen Schlaganfallgesellschaft. Auch eine schnelle Lyse sei keine Garantie, lebenslangen schweren Behinderungen oder dem Tod zu entgehen. „Aber es ist eine Chance!“ Also lieber einmal zu viel als einmal zu wenig 112 wählen. (Die Notrufnummer gilt europaweit und teils darüber hinaus.)

Die nötige Infrastruktur gibt es heute. Noch im Jahr 2005 wurden die meisten Schlaganfallpatienten in Abteilungen für innere Medizin behandelt. Heute werden etwa zwei Drittel in neurologischen Abteilungen mit „Stroke Unit“, also einer spezialisierten Schlaganfallabteilung, versorgt. 250 dieser Spezialeinheiten würden in Deutschland gebraucht, schreibt die „Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe“. Über 230 gibt es bereits.

In anderen Bereichen gibt es weniger Erfolge zu feiern. 2010 gab es in Berlin eine große, sechs Monate andauernde Kampagne zur Information über den Schlaganfall. Das Resultat war bescheiden: Nur zehn Prozent mehr Patienten oder Angehörige riefen bei Schlaganfallverdacht die Feuerwehr, und sehr oft nicht sofort, berichtet Matthias Endres, Direktor der Charité-Klinik für Neurologie. Genaueres lässt sich dem Berliner Schlaganfallregister entnehmen: Vom vermuteten Schlaganfall bis zur Aufnahme in eine Klinik mit Stroke Unit vergingen im Jahr 2009 nur bei 31,3 Prozent der Betroffenen weniger als drei Stunden. 2012 waren es 31,4 Prozent.

Der Rettungswagen soll in acht Minuten am Ziel sein

An der Feuerwehr liegt das vermutlich nicht, denn deren Rettungssanitäter sind nach einem Notruf meist rasch zur Stelle. „Unser Ziel ist es, dass der Rettungswagen in durchschnittlich acht Minuten beim Patienten sein soll“, sagt Stefan Poloczek, leitender Arzt des Berliner Feuerwehr-Rettungsdienstes. „Bei 9,12 Minuten sind wir schon.“ Die größte Unsicherheit herrsche bei der Zeitspanne vor dem Einsatz, sagt Poloczek. Das heißt, viele Schlaganfallkranke oder ihre Kontaktpersonen zögern noch immer, ehe sie 112 wählen. Vielleicht weil ein Hirnschlag im Unterschied zum Herzinfarkt nicht wehtut, meint der oberste Rettungsarzt.

Hundert Rettungsfahrzeuge mit gut geschultem Personal sind in Berlin im Einsatz. Zudem fährt auch auf jedem Löschfahrzeug ein Sanitäter mit. In den Feuerwehr-Leitstellen wird mit wenigen strukturierten Fragen der Schlaganfallverdacht vorgeklärt. Niemandem macht man Vorwürfe, wenn der Wagen doch umsonst kommt. „Besser einmal zu viel als einmal zu wenig“, sagt Poloczek.

Zurzeit werden in Berlin auch spezielle Schlaganfall-Fahrzeuge, „Stemo“ genannt, erprobt. An Bord befinden sich nicht nur ein Computertomograf und ein Mini-Labor, sondern auch ein Neurologe mit Notfallausbildung und ein Röntgenassistent, so dass die Untersuchung und Behandlung des Patienten schon auf dem Weg in die Klinik beginnen könnte. Ob sich die teure Regelversorgung mit solchen Spezialwagen (von denen Berlin drei bis fünf bräuchte) lohnen würde, weiß Poloczek noch nicht zu sagen.

Spezialeinheiten für Schlaganfälle

Seit Ende 2008 ist offiziell geregelt, dass die Rettungswagen der Feuerwehr bei Schlaganfallverdacht sofort eine der 17 Berliner Stroke Units ansteuern. Der Patient wird dort vom Rettungswagen aus telefonisch angekündigt. Die Stroke Units schlossen sich 2006 zu einer bei der Ärztekammer angesiedelten Arbeitsgemeinschaft zusammen und begründeten das Berliner Schlaganfall-Register mit dem Ziel, die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern.

An den gemeinsam systematisch erhobenen Daten kann jede der Berliner Schlaganfall-Spezialeinheiten ablesen, welche Stärken und Schwächen sie im Vergleich zu den anderen hat. Die Daten zeigen, dass bereits Verbesserungen erreicht wurden. So stieg der Anteil der Lysen bei Patienten mit Hirninfarkt von 6,3 Prozent im Jahre 2007 auf 13,8 Prozent 2012. Aber damit liegt Berlin trotz der guten Infrastruktur nur im Mittelfeld.

In der Forschung ist die Stadt allerdings Spitze. Das Bundesforschungsministerium fördert seit 2008 das „Center for Stroke Research Berlin“ als eines der acht von ihm initiierten Spitzenforschungsinstitute zu verschiedenen Krankheiten. Federführend ist die Charité, Endres ist Direktor. Das Zentrum verbindet Grundlagen-, klinische und Versorgungsforschung, außerdem Patientenberatung und -behandlung. Beteiligt sind unter anderem das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin und das Evangelische Geriatriezentrum. Zu den schon vorhandenen Forschungsgruppen kamen sieben neue Professuren hinzu. Ein wichtiges Ziel ist es, Forschungsergebnisse möglichst schnell in eine bessere Versorgung der Patienten umzusetzen.

Eine Frage, die am Berliner Zentrum für Schlaganfallforschung im Mittelpunkt steht: Lässt sich im Voraus sicherer ermitteln, bei welchen Hirninfarktpatienten eine Lyse Erfolg verspricht und bei welchen nicht? Wie jede Therapie birgt auch die Lyse ein Risiko. Sie kann eine Hirnblutung verursachen, und gegen die sind Mediziner weitgehend machtlos. Darum versucht die Arbeitsgruppe um den Neurologen Jochen Fiebach, mit bildgebenden Verfahren genauer zu bestimmen, welche Hirnregionen bereits unrettbar verloren sind und welche durch eine erneute Blutzufuhr wiederhergestellt werden könnten. „Es geht darum, die Patienten, die eine geringe Chance haben, von einer Lyse zu profitieren, nicht den Risiken der Therapie auszusetzen“, sagt Fiebach.

Die Komplikationen des Hirnschlags

Andere Arbeitsgruppen untersuchen andere Fragen. So ist eine häufige Todesursache nach dem Schlaganfall eine Lungenentzündung. Forscher an der Charité erforschen, ob sich diese Komplikation durch die Gabe von Antibiotika verhindern lässt. Und zwei weitere große Vorhaben wurden gerade begonnen: eine systematische Erhebung von Komplikationen des Hirnschlags und eine umfangreiche Rehabilitationsstudie, bei der es um die körperliche Aktivität der vom Schlag Getroffenen geht.

Das größte Ziel der Forschung aber ist ein anderes: eine Therapie, die nicht einfach nur die Blutzufuhr zu den betroffenen Hirnregionen wiederherstellt, sondern die Nervenzellen gezielt vor dem Absterben schützt. Eine Reihe von Substanzen ist in den letzten Jahren getestet worden – mit enttäuschenden Ergebnissen. Möglicherweise könnten einige der Stoffe aber doch einen Effekt haben, sagt Endres, wenn Sie viel früher gegeben würden, in der ersten „goldenen“ Stunde nach dem Schlaganfall. Beim Schlaganfall zählt also auch für die Forscher jede Minute.

Die Deutsche Schlaganfallhilfe (www.schlaganfall-hilfe.de) ist unter der Telefonnummer 05241/97700 zu erreichen. Die Charité bietet unter 030/450560600 eine telefonische Beratung.

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