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Den Streit abstreifen. Nach dem Wettkampf werden Trikots getauscht. Foto: ddp

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Rituale: Nachher ist man jemand anders

Trikottauschen, Gutenachtlieder, Weihnachtsbäume: Eine Tagung in Berlin befasst sich mit der Frage, wozu wir Rituale brauchen.

„Wenn’s der Wahrheitsfindung dient“, antwortete der angeklagte Kommunarde Fritz Teufel, als er im Jahr 1967 vom Gericht gebeten wurde, sich vom Sitz zu erheben, um seine Aussage zu machen. Der provozierende Spott galt einem Ritual, das Teufel als verstaubt und sinnentleert erlebte. Aber kann man das nicht von allen Ritualen behaupten? Wozu „dienen“ der geschmückte Tannenbaum an Weihnachten, der Tausch der verschwitzten Trikots nach einem Fußball-Länderspiel, das allabendlich gleiche Gutenachtlied am Bett des Zweijährigen? „Wozu braucht es Rituale?“ – diese Frage stand beim diesjährigen 14. Berliner Kolloquium der Gottlieb-Daimler- und KarlBenz-Stiftung im Mittelpunkt.

Der Indologe Axel Michaels von der Uni Heidelberg, Sprecher des Sonderforschungsbereiches „Ritualdynamik“, schlug vor, den Begriff nicht für alle Formen wiederholten Verhaltens, vom Händeschütteln bis zum Zähneputzen, zu verwenden. In seinem Verständnis ist das Ritual das Besondere, im Alltag zeigen wir nur „ritualisiertes Handeln“.

Aus dem Alltag herausgehoben ist ein Ritual typischerweise dadurch, dass die Menschen dem Anlass entsprechende, festliche oder liturgische Kleidung tragen, aber auch durch einen formellen Beschluss, einen Rahmen und eine „Ritualgrammatik“. „Bloßes Wachbleiben wird so zur Nachtwache, bloßes Nichtessen zum religiösen Fasten.“ Rituale betreffen zugleich den Einzelnen und die Gemeinschaft, oft kommt eine überhöhte, transzendente Welt hinzu. Ein weiteres Merkmal ist für Michaels die Veränderung der Beteiligten: „Rituale wirken, nachher ist man jemand anders.“

Veränderungen, vor allem Wechsel in eine neue Lebensphase, die ohnehin bevorstehen, werden in allen Kulturen durch Übergangsriten abgefedert, sozusagen von der Wiege bis zur Bahre. Sie haben vor allem beim Übergang zwischen Adoleszenz und Erwachsenenalter und anlässlich der Eheschließung ihren Platz. 250 000 Jugendliche sind im Jahr 2008 in Deutschland konfirmiert worden, so war bei der Tagung zu erfahren.

So einheitlich das Bild bei einer Konfirmation oder einer Jugendweihe dabei von außen wirken mag, so unterschiedlich können die Jugendlichen, ihre Familien und die Vertreter der Kirchen die Zeremonie für sich deuten. „Jeder denkt sich seinen Teil – und gemacht wird, was gemacht werden muss“, charakterisiert Ritualforscher Michaels das Geschehen.

Rituale sind für Interpretationen offen. Wenn sie andererseits ausgesprochen beständig sind, so verdanken sie das zum Teil sicher ihrem gesellschaftlichen Nutzen: Wo es ein Ritual gibt, muss nicht jedes Mal neu ausgehandelt werden, welches Verhalten angemessen ist. Der Einzelne wird intellektuell entlastet, die Gesellschaft wirkungsvoll zusammengehalten. Rituale bildeten ein Vertrauenskapital, „das selbst dann nützt, wenn man es nicht nutzt“, meint Michaels.

Im 2002 gegründeten Sonderforschungsbereich „Ritualdynamik“ gehen die Wissenschaftler auch der Frage nach, unter welchen Umständen Rituale zerfallen und warum sie verschwinden, wie und warum sie sich wandeln oder neu entstehen. Moderne Gesellschaften können es sich nach Michaels Ansicht eher leisten, Rituale abzuschaffen, sie zu verändern oder neu zu erfinden, weil Informationen sich in ihnen schneller und besser verbreiten lassen. Wir haben deshalb zeitgleich eine größere Fülle von Ritualen, die auch miteinander konkurrieren können. „Traditionelle Gesellschaften sind rituell statischer und ärmer.“

Doch gerade die Faszination für das farbenprächtige Brauchtum exotischer Kulturen hat auch hierzulande zu einem neuen Interesse an Ritualen geführt. Inzwischen beschäftigen sich auch die Naturwissenschaftler mit dem Thema. Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main, vermutet, dass Rituale als Vermittler zwischen der konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit und der zweiten, abstrakteren Realität entstanden sind, die Menschen sich mit ihrer Kultur und ihren sozialen Systemen schaffen.

„Wahrscheinlich haben Rituale unseren Vorfahren zuerst eine vorbegriffliche, vorsprachliche Ahnung dieser zweiten Wirklichkeit gegeben“, sagte Singer. Wegen ihrer positiven Nebeneffekte hätten sich solche besonderen Ereignisse, die sich vom „Hintergrundrauschen“ des alltäglichen Lebens abheben, dann auch nach Entwicklung des begrifflichen Denkens weiter großen Zuspruchs erfreut.

„Rituale stellen eine anthropologische Notwendigkeit dar“, stimmte die Ethnologin Birgit Röttger-Rössler vom Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin zu. Sie stützt sich dabei auf ihre Feldforschungen bei den Makassar auf der indonesischen Insel Sulawesi. Wenn dort jemand für längere Zeit die Insel verlässt, wird er oder sie mit einem ausgiebigen Ritual verabschiedet, wie Röttger-Rössler berichtete.

Drei Wochen vor der Abreise beginnt alles damit, dass jeder, der den Reisewilligen trifft, sich nach dessen Gefühlen erkundigt, und das jedes Mal aufs Neue: „Noch 20 Nächte! Freust du dich, bist du aufgeregt, hast du Angst?“ Die letzten Nächte vor der Abreise verbringen alle Verwandten und Freunde dann ganz im Haus desjenigen, der sie bald verlassen wird. Die allerletzte Nacht durchwachen alle bei Musik und Tanz. „So entsteht ein Klima, das das Mitteilen von Gefühlen nicht nur begünstigt, sondern herausfordert“, sagte die Ethnologin.

Beim anfänglichen „Nächtezählen“ machen sich die Beteiligten klar, was auf sie zukommt, in den gemeinsamen Nächten bringt die „emotionale Ansteckung“ alle zum Weinen, die durchwachte Abschiedsnacht beinhaltet schließlich neben Schönem auch Stress. Am Schluss seien alle so weit, die Abreise herbeizusehnen, berichtete Röttger-Rössler. Ihr Resümee klingt insofern recht plausibel: „Rituale haben das Potenzial, tief in die Psyche und die Physis des Menschen einzugreifen, um ihm die Anpassung an eine neue Lebenssituation zu erleichtern.“ Wahrheitsfindung ist eben nicht alles.

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