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Hermann Simon, bis 2015 Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum.

© Mike Wolff

Ringvorlesung zur jüdischen Geschichte: Sie spricht Sorbisch, trägt Tracht - und nennt sich Esther

Die Humboldt-Uni widmet dem Historiker Hermann Simon zum 70. eine Ringvorlesung. Zum Auftakt sprach er selber - über ein sorbisch-jüdisches Kapitel.

Was für ein Geschenk an Hermann Simon, den Wiedergeburtshelfer der jüdischen Geschichte Ost-Berlins und ab 1990 auch ganz Berlins: Die Humboldt-Universität, seine Alma Mater, widmet ihm zum 70. eine Ringvorlesung – zur jüdischen Geschichte Berlins. Dass dazu nicht alles erforscht und bekannt ist, lassen schon die Vortragstitel erkennen, darunter „Das Scheunenviertel als Gewaltraum? Antijüdische Gewalt 1919 bis 1923“ und „Nach der Befreiung: Juden in Berlin und die Organisation ihres Gemeindelebens“.

Simon habe das Geschenk begeistert angenommen und angekündigt, wie einst im Studium, regelmäßig zu erscheinen, erzählt Michael Wildt, HU-Historiker und Organisator der Reihe, am Rande der Eröffnung am Dienstag. Studiert hat Simon ab den späten 60er Jahren Geschichte und Orientalistik. An der HU und in Prag promovierte er über sasanidische Münzen und war dann bis 1985 Kustos am Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin.

Sein "Baby" war das Centrum Judaicum

Geburtshelfer für die jüdische Geschichte Berlins wurde Simon, Sohn von Holocaust-Überlebenden, mit der 1988 im Ephraim-Palais eröffneten Ausstellung „Und lehrt sie: Gedächtnis“. Im selben Jahr dann die Rettung der 1943 schwer beschädigten Synagoge in der Oranienburger Straße. Direktor der darin gegründeten Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum wird Hermann Simon. „Mein Baby“ nennt er diesen Ort der Information, der Ausstellungen und des gelebten jüdischen Lebens. Am 21. April wird der stolze Vater 70 Jahre – und ist selbstverständlich als Forscher und Publizist keineswegs im Ruhestand.

So konnte Hermann Simon seine Vorlesungsreihe denn auch selber eröffnen – mit einem Werkstattbericht über Recherchen zu Annemarie Schierz, einer „sorbisch-katholischen Jüdin“. Um zu zeigen, wie ertragreich jüdische Lokalgeschichte im 21. Jahrhundert sein kann, indem sie Fragen stellt, die erst heute gestellt werden können, hätte Simon nicht bis in die Lausitz reisen müssen. Doch das Schicksal der 1918 als uneheliche Tochter einer jungen jüdischen Dresdnerin im sorbischen Horka geborenen Annemarie begleitet ihn seit 1990, wie Simon berichtet.

Irritierende Zuschreibung als "sorbisch-katholische Jüdin"

Damals wollte er zur Beziehung zwischen Sorben und Juden forschen und stieß auf die literarische Erzählung eines Heimatdichters über eben jene Annemarie Schierz. Das auf Sorbisch verfasste Buch war unübersetzt – und Simon verlor sein Thema aus den Augen. Bis er im Sommer vergangenen Jahres von einem Linken-Abgeordneten im sächsischen Landtag zu einer Gedenkveranstaltung für Annemarie Schierz eingeladen wurde.

Seitdem versucht Simon ihr Leben und Sterben zu rekonstruieren – trotz und über das hinaus, was eine Heimatforscherin und ein Nachwuchswissenschaftler der TU Dresden bereits erarbeitet haben. Denn schon die allgegenwärtige Zuschreibung als „sorbisch-katholische Jüdin“ sei irritierend, sagt Simon. Das von der Mutter in Horka zurückgelassene Mädchen wird von einer sorbischen Bauersfrau adoptiert und wächst bei ihr und ihrem Bruder auf, den sie als Vater betrachtete.

Ein Stolperstein im Dorf - und Widerstände bis heute

Sie spricht Sorbisch, trägt Tracht, wird getauft und gefirmt. 1934 aber wählt sie der örtlichen Überlieferung zufolge Esther als Firmnamen. Auch Hermann Simon ist überzeugt, dass das ein Bekenntnis zu ihrer jüdischen Herkunft war. Doch auch ohnedies war sie in Horka wohl nicht erst im Nationalsozialismus „die Jüdin“ – egal wie gut sich das Mädchen in die sorbische Gemeinschaft integrierte. Wie aber die NS-Bürokratie sie in dem abgelegenen Örtchen erfasste, wie Rettungsversuche ihrer Adoptivfamilie scheiterten – und an welchen verantwortlichen Personen? – versucht Hermann Simon in Archiven und bei Besuchen im Dorf zu ergründen. 1942 verlor sich ihre Spur, offenbar nachdem sie sich bei der Gestapo in Dresden melden musste. Obwohl es seit 2014 vor dem Gehöft der Familie einen Stolperstein für Annemarie gibt, stößt Simon auf Widerstände. Nun wolle er den Pfarrer bitten, von der Kanzel nach erhellendem Wissen und Material zu fragen. „Denn das einzige angemessene Andenken besteht darin, weiter ihr Schicksal aufzuklären“, sagt der Historiker im Senatssaal der HU – und umreißt damit auch den Auftrag an jüdische Geschichte insgesamt. Der nächste Termin – Dienstag, 16. April, ab 16 Uhr am Hausvogteiplatz 5-7 – kommt Simons Alma Mater sehr nahe. Annette Leo klärt auf über die Frage: „1969 – Antisemitische Töne in der Humboldt-Universität?“

Zum Programm der Ringvorlesung geht es hier.

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