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Richard David Precht (46) ist Publizist und Buchautor. Er studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Köln. Zuletzt erschien "Die Kunst, kein Egoist zu sein".

© dapd

Richard David Precht: "Lieber böse als dumm"

Der Publizist und Buchautor Richard David Precht spricht im Interview über Egoismus, realistische Moralvorstellungen und Kindererziehung. Und darüber, ob das christliche Liebesgebot eigentlich absurd ist.

Herr Precht, in Ihrem Buch „Die Kunst kein Egoist zu sein“ gehen Sie hart mit Wissenschaftlern ins Gericht, die behaupten, all unser Tun sei immer auf den eigenen Vorteil ausgerichtet, auf das „egoistische Kalkül unserer Gene“. Was hat Sie so aufgeregt an diesen Ideen?

Diese Weltsicht wurde in den letzten 20 bis 25 Jahren häufig dazu benutzt, um Ungerechtigkeiten in unserem Wirtschaftssystem zu rechtfertigen. Das diente beispielsweise dazu, die Gier von Bankern als etwas Natürliches darzustellen. Die gesellschaftliche Mentalität und Theorie passten da wunderbar zusammen und bestärken sich wechselseitig. Die Auffassung, der Mensch sei von Natur aus ein harter Egoist und das reine Vorteilskalkül sei der rote Faden unserer Handlungen, passt perfekt in eine Gesellschaft, deren Ideal der Broker ist und das schnell verdiente Geld. Doch das ist eher eine Ideologie als eine wissenschaftliche Erkenntnis.

Sie zeichnen ein eher positives Bild von der menschlichen Natur.

Eigentlich nicht, nein, ich habe ein neutrales Bild. Ich stelle fest, dass die meisten Menschen gerne gut sein wollen. Das ist die positive Seite. Die negative Seite ist, dass wir in Fragen der Moral gerne eine „doppelte Buchführung“ haben. Wir betrügen uns im Hinblick auf unsere moralische Integrität. Ich würde das nicht als besonders positiv sehen. Oder besser gesagt: Es ist weder positiv noch negativ. Der Mensch ist nicht gut oder böse, sondern gar nichts von beidem.

Aber Menschen sind keine knallharten Egoisten, das ist Ihre gute Nachricht.

Das soziale Schach, das wir den ganzen Tag spielen, dient nicht dazu, uns Vorteile zu verschaffen. Im Gegenteil, wir sind eher in erster Linie empfänglich dafür, dass uns andere Menschen Anerkennung, Respekt und Liebe zukommen lassen. Jetzt könnten Evolutionspsychologen noch ganz perfide argumentieren, dass auch ein Handeln um der Anerkennung willen eine Vorteilskalkulation sei. Aber dann wird der Begriff des Egoismus vollkommen schwammig. Wenn man unter Egoismus versteht, dass jemand einen Vorteil aus einer Handlung zieht, dann wären die meisten Handlungen egoistisch. Ich würde eher sagen: Egoisten sind Leute, die sich auf Kosten anderer einen Vorteil verschaffen. Das ist nicht das Gleiche.

Sie schreiben in Ihrem Buch, „eine Moralphilosophie ohne Moralpsychologie bleibt blass“. Was bedeutet das?

Wie die Menschen sein sollen, darauf können wir uns relativ schnell einigen. Aber die spannende Frage ist, warum die Menschen nicht so sind, wie sie sein sollen. Und da kommen wir in den Bereich der Moralpsychologie. Man sollte die Natur des Menschen auf seine psychologischen Mechanismen hin untersuchen. Auf diese Weise wird man zu einem realistischen Menschenbild kommen. Und dann sollte man die Probleme, die wir heute in der Gesellschaft haben, mit Rücksicht auf dieses realistische Bild betrachten und von da aus Lösungsvorschläge machen.

Können wir aus einem realistischen Menschenbild Normen und Regeln für das Zusammenleben ableiten?

Aus einer Betrachtung, wie der Mensch ist, folgen keine Normen. Das ist ein altes Gesetz der Philosophie. Wenn man weiß, dass nur jeder Zweite in Deutschland regelmäßig eine Zahnbürste benutzt, folgt daraus nicht logisch schon die Regel, dass die Menschen sich häufiger die Zähne putzen müssten. Dennoch, wer moralische Forderungen stellen will, muss die Menschen real kennen. Das heißt, bevor ich die Leute zum Zähneputzen bringen kann, muss ich erst einmal wissen, wie oft sie überhaupt zur Zahnbürste greifen.

Moralpsychologie könnte auch aufdecken, wo die Verführbarkeiten der Menschen liegen. „Jede Gesellschaft hat die Egoisten, die sie verdient“, schreiben Sie.

Das Streben nach Anerkennung macht uns nicht unbedingt zu guten Menschen. Ernst Fehr, ein österreichischer Professor für Mikroökonomik, hat interessante Untersuchungen zum Gerechtigkeitssinn angestellt. Er stellt eine Gruppe von Studenten zusammen und ließ sie ein Spiel unter fairen Regeln durchführen. Dann setzte er zwei bis drei Versuchspersonen in die Gruppe, die die Regeln brachen, und nach einem Tag spielte der ganze Verein falsch. Die Spieler haben betrogen, obwohl sie Falschspielen verabscheuten. Aber sie konnten den Zustand nicht ertragen, von anderen übers Ohr gehauen zu werden. Wir sind eben lieber die Bösen als die Dummen. Und oft sind wir auch lieber die Bösen als die Unauffälligen.

Sie verwenden oft Beispiele aus der Primatenforschung, etwa dass Kapuzineräffchen so etwas wie einen Sinn für Fairness haben. Kann man von Beobachtungen der Tierwelt wirklich auf menschliches Verhalten schließen?

Die Parallelen und Schlüsse treffen mal mehr, mal weniger zu. Ich schreibe gerade einen Aufsatz, in dem ich zeige, dass die naturwissenschaftlichen Erklärungen der Liebe reiner Blödsinn sind. In anderen Bereichen aber passen die Argumente der evolutionären Psychologie. Zum Beispiel bei der Feststellung, dass der moralische Horizont, auf den wir ausgerichtet sind, nicht die Weltgesellschaft ist. Gefühlsmäßig beziehen wir uns am stärksten auf Menschen, die uns nahe stehen. Wir sind moralische Hordentiere. Das müssen wir zunächst einmal verstehen, damit wir uns nicht pausenlos selbst überschätzen und überanstrengen. Unser Mitgefühl ist nicht das Gleiche, wenn ein Erdbeben im fremden Japan ausbricht oder auf einer Insel im Mittelmeer, auf der Deutsche oder Österreicher leben. Letzteres ginge uns viel mehr an die Nieren.

Aber ist das nicht furchtbar? Ich finde diese Hordenmoral suspekt.

So ist der Mensch. Und deswegen müssen wir uns Regeln ausdenken, die nicht nur unser Hordengefühl zum Zug kommen lassen. Daher gibt es ja auch so etwas wie eine universale Erklärung der Menschenrechte, die feststellt, dass das Leben jedes Menschen gleich viel wert sei. Es ist unglaublich wichtig, dass wir das festlegen, weil wir es nicht fühlen. Natürlich finde ich das Leben meiner Kinder sehr viel wertvoller als Ihres.

Sollte das denn so sein?

Es ist müßig darüber nachzudenken, ob das gut ist oder nicht. Es hat Vorteile und Nachteile. Der Vorteil ist zum Beispiel, dass wir unsere Kinder sehr lieben. Wenn wir gegenüber allen anderen Menschen so fühlten, würden wir verrückt. Nun müssen wir aber sehen, wie wir diese natürlichen Gefühlsmechanismen zum Guten für die Gesellschaft nutzen können, das ist die spannende Frage. Wir können diese Gefühlsmechanismen aber nicht wegdiskutieren. Sie dürfen einem Menschen nicht sagen, er solle nicht so sein, wie er ist. Damit wären Sie erledigt.

Das heißt, das christliche Liebesgebot ist eigentlich absurd?

Nein, es ist wichtig, den Kindern, die ja sehr stark prägbar sind, Vorstellungen von Nächstenliebe, Gemeinschaftssinn, Verantwortungsgefühl beizubringen. Wenn die Kinder diese Werte nachahmen können, dann haben wir die Chance, später in einer Gesellschaft zu leben, die moralischer ist, als wenn es diese Werte nicht gäbe. Erwachsene allerdings ändern sich durch fromme Sprüche nicht.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Wir leben in einer der am meisten privilegierten Gesellschaften, die es je in der Weltgeschichte gegeben hat. Doch die Wohlstandsentwicklung wird nicht so weitergehen können, wie das bisher der Fall war. Also müssten wir all unsere Anstrengungen darauf richten, auch ohne weiteres Wirtschaftswachstum glücklich zu leben. Aber das geschieht nicht, wir sind nicht darauf vorbereitet, dass der Wohlstand sinken wird. Das wird politisch noch sehr gefährlich.

Das Gespräch führte Andrea Roedig.

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