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Landgang. An der argentinischen Küste schnappt sich ein Schwertwal eine Mähnenrobbe. Normalerweise leben die Tiere im offenen Wasser, für die Jagd nach Futter kommen sie aber auch in flache Abschnitte. Foto: dpa

© picture alliance / WaterFrame

Wissen: Räuber gegen Räuber

Mit einer raffinierten Methode jagen Orcas sogar Haie. Dabei ruinieren sie sich allerdings ihr Gebiss

Mit einem mächtigen Schlag seiner Schwanzflosse trifft der Orca den Hai fast genau in der Mitte seines drei Meter langen Körpers. Orientierungslos und anscheinend bewusstlos treibt der gefährlichste Raubfisch der Welt im Wasser vor der neuseeländischen Nordinsel. Wenige Sekunden später packen die spitzen Zähne des acht Meter langen und neun Tonnen schweren Großen Schwertwals (Orcinus orca) zu. Zwar ruinieren die Orcas bei solchen Attacken mitunter ihr Gebiss, wie der Kanadier John Ford soeben im Fachblatt „Aquatic Biology“ schreibt (Band 11, Seite 213). Die Schwertwale lassen sich davon nicht schrecken – sie machen weiter Jagd auf Haie.

Lange Zeit hatte kein Wissenschaftler geahnt, dass die gefährlichsten Raubfische der Welt selbst zur Beute werden. Zu flink und wendig seien große Haie, um von anderen Tieren gejagt zu werden, war die gängige Lehrmeinung. Und wer sollte sich auch an diese Raubfische wagen, die mit ihrem Gebiss selbst viel größere Tiere leicht in Fetzen reißen. Die Meeresbiologin Ingrid Visser vom „Orca Research and Education Centre“ in Tutukaka in Neuseeland sieht das anders. Von ihrem 5,8 Meter langen Zodiak-Boot aus hat sie etliche Male aus unmittelbarer Nähe beobachtet, wie Orcas große Haie mit immer der gleichen Methode jagen: Zunächst schwimmen sie dicht unter die Beute und schlagen mit der Fluke kräftig nach oben. Dabei berühren sie den Hai nicht, treiben ihn aber mit einem gewaltigen Wasserwirbel an die Oberfläche.

Während der Hai noch unter sich den Angreifer sucht, ist der Orca bereits um ihn herumgeschwommen, hebt seine Fluke hoch über den Körper des Hais aus dem Wasser und donnert die schmale Seite der Fluke mit einer Art Karateschlag extrem schnell auf seine Beute. Durch die Wucht wird der Hai orientierungslos oder auch bewusstlos und ist damit eine leichte Beute.

„Die Methode gelingt nur mit einiger Übung, weil der Orca beim entscheidenden Karateschlag den Hai nicht sieht und blind schlagen muss“, erläutert Visser. Daher trainieren die Orcas ihren Nachwuchs. Hat ein Schwertwal einen Hai erst einmal bewegungsunfähig geschlagen, darf manchmal ein Jungtier am ungefährlichen Objekt üben. Als Erwachsene wagen sich Orcas dann durchaus an ausgewachsene Fuchshaie, die mit bis zu sechs Metern Länge in der Rangliste der gefährlichen Haie weit oben stehen.

„In 80 Prozent der Fälle, in denen ich Orcas beim Jagen oder Fressen beobachten konnte, hatten sie es auf Haie oder Rochen abgesehen“, berichtet die Forscherin. Im Rest der Weltmeere dagegen wurden Angriffe von Orcas auf Haie bisher nur in Einzelfällen beobachtet. Die Schwertwale Neuseelands scheinen sich darauf spezialisiert zu haben.

Auch die Orcas vor der kanadischen Pazifikküste greifen durchaus Haie an. Das schließt John Ford von der Pacific Biological Station in British Columbia aus den Überresten der Opfer. Genetische Analysen zeigen, dass die Wale den Pazifischen Schlafhai erwischt hatten, der immerhin vier Meter lang werden kann. Die Zähne von verendeten und an die Küste geschwemmten Orcas wiederum sind oft bis aufs Zahnfleisch abgenutzt. Die Wale haben ihr Gebiss wohl beim Zerschneiden der harten Haut der Haie ruiniert, vermutet Ford. Möglicherweise beißen nur die jüngeren Orcas zu, während die älteren Tiere sich auf weichere Innereien wie die Leber beschränken, spekuliert er.

Ingrid Visser auf der entgegengesetzten Seite des Pazifik hat eine raffinierte Methode entwickelt, um die Orcas zu erforschen: Überall hängen Zettel mit ihrer Handynummer und der Bitte, sie doch anzurufen, wenn irgendwo Schwertwale gesichtet werden. Kommt ein Anruf, springt die Wissenschaftlerin in ihren Wagen und zieht den Anhänger mit dem Zodiak zum angegebenen Ort. Mit dem Boot fährt sie zu den Schwertwalen, beobachtet sie aus nächster Nähe und fotografiert sie. Mithilfe von Narben an den Fluken kann sie inzwischen mehr als 100 Orcas identifizieren, die alle um Neuseeland leben.

Ihre Studien zeigten, dass die Tiere 4000 Kilometer weit vor der Küste Neuseelands auf und ab schwimmen. Im Durchschnitt legen sie jeden Tag rund 150 Kilometer zurück. Durch einen laufenden Wechsel ihres Jagdgebietes versuchen die Orcas den Überraschungsmoment zu nutzen, vermutet die Wissenschaftlerin: „Jagen die Tiere längere Zeit in einer Region, lernen vor allem Delfine und Wale rasch die Gefahr kennen und werden entsprechend vorsichtig.“ Kommen die Orcas dagegen erst nach einem Jahr wieder in ein ehemaliges Jagdgebiet zurück, hat die potenzielle Beute sich dort längst wieder an ein sorgloses Leben gewöhnt. „Wolfsrudel jagen recht erfolgreich nach dem gleichen Muster“, fügt sie hinzu.

Wie die grauen Räuber zu Land sich beispielsweise auf Rotwild spezialisieren, bevorzugen auch die schwarz-weißen Orcas eine bestimmte Beute. Während sie vor der argentinischen Halbinsel Valdez sowie in antarktischen Gewässern gerne Seelöwen und junge See-Elefanten jagen und diese sogar vom Strand herunterholen, ernähren sich die Orcas vor Neuseeland vor allem von Haien und Rochen.

Tödliche Angriffe auf Menschen sind – zumindest in der Natur – nicht bekannt. Auch Ingrid Visser hat in den vielen Jahren noch keine schlechten Erfahrungen gemacht, obwohl sie im Taucheranzug zwischen die Orcas springt und so auch im offenen Meer ihre Verhaltensweisen erforscht.

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