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Liebeserklärung. Plakate mit der Aufschrift "Ich liebe mich!"

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Psychologie: Ich mag mich: Ein Lob des Narzissmus

Selbstliebe ist keine krankhafte Störung, sondern normal und nützlich. Und sollte nicht mit Rücksichtslosigkeit verwechselt werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hartmut Wewetzer

Narziss war ein schöner Jüngling. Stolz wehrte er jene ab, die ihn begehrten. Seine Eitelkeit und Arroganz erregten den Zorn der Rachegöttin Nemesis. Sie strafte Narziss mit Selbstliebe. Er vergaffte sich in sein eigenes Spiegelbild, stürzte schließlich in ein tiefes Wasser und ertrank.

So weit eine Version des antiken Mythos, der eigentlich ein moralisches Gleichnis ist: Wer sich selbst zu sehr liebt, wird gerichtet. Spürt man da nicht ein wenig Schadenfreude? Wer attraktiv ist und noch dazu darum weiß, der soll büßen! Durchschnitt und Mittelmaß, nach denen sich niemand umdreht, haben sich um den toten Schönling versammelt, um ein paar Krokodilstränen zu vergießen. Damit nicht genug. „Narzissmus“ ist sogar eine Diagnose, wenn auch eine von denen, die die Welt nicht unbedingt braucht. Wir verdanken sie, wie Ödipuskomplex und Penisneid, Sigmund Freud. Der Begründer der Psychoanalyse erschuf den Mythos gewissermaßen zum zweiten Mal und verankerte ihn im kollektiven Bewusstsein. Freud spekulierte, Narzissmus sei zunächst Teil der normalen Entwicklung. Das Kind lernt, sich selbst zu mögen. Später muss der Mensch dann auch andere gern haben. Misslingt das und verfällt er in Selbst- statt in Fremdliebe, haben wir den Salat – Narzissmus.

Narzisstisch sind immer die anderen

So weit die Theorie. In der Praxis mündete Freuds Räsonieren in eine „amtliche“ Krankheit, die „narzisstische Persönlichkeitsstörung“, felsenfest verankert in den Krankheitsklassifikationen DSM-5 (USA) und ICD-10 (Rest der Welt). Dem Narzissten mangelt es an Einfühlungsvermögen, er nutzt andere aus, lügt wie gedruckt und überschätzt und verklärt sich selbst. Das sind nur einige der negativen Attribute, die ihm anhaften. Der Kriterienkatalaog ist so umfangreich wie vage. Entscheidend ist: Narzisstisch sind immer die anderen. Angeblich soll jeder Hundertste narzisstisch gestört sein.

In Wirklichkeit ist Eigenliebe eine Voraussetzung unserer Existenz. Der Mensch handelt aus Eigeninteresse. Narzissmus ist keine Störung, sondern der Normalfall. Natürlich hat die Selbstliebe Grenzen. Sie muss sich in das Zusammenleben mit anderen einfügen und darf nicht zur Rücksichtslosigkeit führen. Doch gilt auch: Wer sich selbst nicht liebt, der kann auch andere nicht lieben.

Die Diagnose Narzissmus stimmt immer, irgendwie

Narzissmus ist als psychische Störung so schlecht umrissen, dass das Etikett scheinbar zu jedem Fall passt. Nachdem der Germanwings-Pilot Andreas Lubitz 149 Menschen mit sich in den Tod gerissen hatte, wurde bekannt, dass er seit Jahren depressiv war. Es dauerte nicht lange, bis selbst ernannte Experten aus der Ferne bei Lubitz eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizierten, die in Wahrheit zur Tat geführt habe. Damit war der Dämon des Absurden, den Lubitz’ Handeln geweckt hatte, gebannt. Denn ein Narziss ist, das wissen wir seit den alten Griechen, vor allem ein moralisch zweifelhafter Mensch, kein Kranker. Andreas Lubitz war böse. Wie aber passt sein Suizid mit übersteigerter Eigenliebe zusammen?

Beim norwegischen Amokläufer Anders Breivik wurde im zweiten Anlauf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung festgestellt. Damit war der Weg frei für eine Gefängnisstrafe, nachdem die Erstgutachter noch eine paranoide Schizophrenie (und damit Schuldunfähigkeit) festgestellt hatten. Auch bei Breivik stellt sich die Frage, was sein angeblicher Narzissmus mit dem Amoklauf zu tun hatte. Aber die Diagnose stimmt eben immer. Irgendwie.

Vollends beliebig wird es, wenn der ganzen Gesellschaft Egomanie und Sucht nach Selbstverwirklichung und -darstellung vorgeworfen werden. Soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook sind der vermeintliche Ausdruck der neuen Selbst-Gefälligkeit. Sogar ein so harmloses Vergnügen wie Selfies wird zum Indiz. Laut einer Studie der Ohio State University neigen Männer, die viele Selbstporträts posten, zu Narzissmus. Das ist nah am Zirkelschluss. Den Kritikern der narzisstischen Gesellschaft kann man entgegenhalten, dass nie zuvor in der Geschichte der Menschheit das Interesse am Fremden und das globale Mitgefühl so ausgeprägt waren wie heute, man denke nur an das Echo auf den Anschlag von Charleston oder die Attacke auf „Charlie Hebdo“. Der moderne Narziss erkennt im Spiegel auch den anderen.

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