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Verloren. Wenn die anderen gewinnen, ist jeder enttäuscht. Bei manchen Sportlern können solche Niederlagen aber auch zu Depressionen führen.

© picture-alliance/ dpa

Psychiatrie: Training für die Seele

Lange Zeit achteten die Sportärzte nur auf die körperliche Gesundheit. Psychische Erkrankungen von Sportlern sind ein Tabu. Dabei trifft es sie ebenso häufig wie die Zuschauer.

Er war „der Größte“. Doch der Schwergewichtsboxer Muhammad Ali alias Cassius Clay, der 1999 vom Internationalen Olympischen Komitee zum „Sportler des Jahrhunderts“ gewählt wurde, litt unter panischer Flugangst und konnte zeitweise nur zum Wettkampf starten, wenn er sich einen Fallschirmrucksack umgeschnallt hatte. Lange Zeit passte Schwäche nicht zum Image von Spitzensportlern und war ein Tabu. Dass es Fußballer mit schweren Depressionen gibt, hat die Öffentlichkeit zuerst von Sebastian Deisler, im letzten Jahr dann besonders eindrücklich durch den Suizid von Robert Enke erfahren.

Nach dessen Tod hat der FC-St. Pauli-Spieler Andreas Biermann erkannt, dass er ebenfalls seit Jahren mit Anzeichen einer Depression lebte und begab sich in stationäre Behandlung. „Wenn ich mehr darüber gewusst hätte, hätte ich schon früher mit jemandem geredet“, sagte er letzte Woche auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin. Einer der Schwerpunkte dort waren seelische Erkrankungen von Sportlern. „Während die Versorgung psychisch Kranker in Deutschland in den letzten Jahren deutlich besser geworden ist, scheint diese Bewegung an den Spitzensportlern vorbeizugehen“, sagte DGPPN-Präsident Frank Schneider.

„Psychische Erkrankungen sind unter Spitzensportlern genauso häufig wie in der Normalbevölkerung; die Theorie, dass es sie dort nicht gebe, weil sich nur mental besonders starke Athleten durchsetzen, ist heute nicht mehr haltbar“, sagte der Kölner Psychiater Valentin Markser. Zwar wurde dort auch immer wieder über die vorbeugende und heilende Wirkung des Sports für die Seele gesprochen. Doch wer gesunden Freizeitsport treibt, bewegt sich in einer anderen Liga als Profifußballer oder Leichtathleten, die immer neue Rekorde aufstellen.

Sie verdanke ihrer Schwimmkarriere einige der schönsten Momente ihres Lebens, berichtete die Schwimmerin Petra Dallmann, die bei Olympischen Spielen Medaillen gewann und heute als Ärztin in der Psychiatrie tätig ist. „Diese Momente hatten aber auch ihren Preis.“ Dallmann schilderte 60-Stunden-Wochen von Kindern und Jugendlichen, die neben der Schule 25 Stunden in der Woche trainieren, auf Süßigkeiten ebenso wie auf Klassenfahrten verzichten und früh lernen, Muskel- und Gelenkschmerzen wegzustecken. Vor allem aber beschrieb sie den Druck, im entscheidenden Moment die von Trainern, Mannschaft, Verband, Familie und Fernsehnation erwartete Bestleistung abzuliefern.

Wenn ein junger Sportler diese Spannung nicht aushält, wird das meist zuerst von Sportpsychologen festgestellt, die ins Trainingsteam eingebunden sind. Sie sehen ihre Aufgabe aber vorrangig darin, gesunden Leistungssportlern Fertigkeiten zu vermitteln, mit denen sie dem Druck besser standhalten können. „Wir grenzen uns dabei durch ein qualitätsgesichertes Programm ausdrücklich von Gurus und selbst ernannten Mentaltrainern ab“, sagte Manfred Wegner von der Uni Kiel und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Sportpsychologie in Deutschland. Sie sind allerdings keine Therapeuten, nicht an die Schweigepflicht gebunden und im Team vor allem mit der Aufgabe betraut, Leistung zu steigern. Sportler mit psychischen Problemen dürften deshalb zögern, sich ihnen gegenüber zu „outen“, so war beim Kongress zu hören.

Sportärzte wiederum hätten lange Zeit nur auf die körperliche Gesundheit der Athleten geachtet, kritisierte der Psychiater Ira Glick aus dem kalifornischen Stanford, der sich in der International Society for Sport Psychiatry engagiert. Deshalb gebe es auch noch zu wenig Forschung zu psychischen Erkrankungen bei Leistungssportlern. Was an wissenschaftlichen Daten verfügbar ist, haben in einer Überblicksarbeit gerade Claudia Reardon und Robert Factor in der Zeitschrift „Sports Medicine“ zusammengetragen. Demnach leiden Athleten genauso häufig unter Depressionen wie die übrige Bevölkerung. Es gebe allerdings Risikozeiten, in denen sie dafür besonders anfällig sind, berichtete Glick: Nach Verletzungen, nach schlechten Leistungen, nach zu intensiven Trainingsphasen („Overtraining“), aber auch direkt nach dem Rückzug aus dem Leistungssport. „Diesem Übergang am Karriereende wird viel zu wenig Beachtung geschenkt“, kritisierte auch Sportpsychologe Wegner. Glick machte zudem darauf aufmerksam, dass Depressionen bei Sportlern manchmal auch die Langzeitfolge von schweren Gehirnerschütterungen sein können. In seinem Land haben das Studien an über 2000 Footballspielern gezeigt.

Auch Essstörungen blieben bei Sportlern oft unbemerkt, berichtete Markser. Dabei kann die „Anorexia athletica“ seiner Ansicht nach als Prototyp der seelischen Störung im Leistungssport gelten. „In ästhetischen Sportarten wie Gymnastik oder Eiskunstlauf ist das Risiko einer Essstörung um das 20-fache erhöht.“ Glick berichtete, bis zu 60 Prozent der Leistungssportlerinnen hätten ein gestörtes Essverhalten, „und die Männer holen auf“.

Psychiater oder psychologische Psychotherapeuten, die Leistungssportlern helfen wollen, müssen außer von ihrem Fach auch etwas von der Welt des Sports verstehen. Zum Beispiel sollten sie wissen, ob ein Medikament die Leistung auf dem jeweiligen Gebiet einschränkt oder ob es umgekehrt wegen Dopingverdachts Probleme machen könnte. Sie müssen sich zudem darauf gefasst machen, dass gerade die „Stars“ stationäre oder langwierige Therapien scheuen, dass bei Heranwachsenden die Eltern miteinbezogen und auf Abhängigkeit von Trainern geachtet werden muss und dass große körperliche Aktivität Stimmungsschwankungen lange Zeit kaschieren kann.

Für Hans Liesen, lange Zeit Mannschaftsarzt der deutschen Fußball-Nationalelf und heute an der „Exercise and Brain“-Stiftung der Uni Paderborn tätig, sind Sportler „als psycho-neuro-endokrinologisch hochtrainierte Menschen letztlich Künstler“. Ihre Sensibilität gehöre ebenso zu ihrem Kapital. Sportpsychiater Markser ist davon überzeugt, dass nicht zuletzt die Vereine davon profitieren, wenn diese Eigenschaft nicht außer Acht gelassen wird. „Während man heute hochtalentierte, aber seelisch labile Spieler verliert, könnten diese in Zukunft dem Sport erhalten bleiben.“

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