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Religion als Fluchtpunkt. Gebannt hören junge Frauen in Offenbach einem Salafisten-Prediger zu.

© picture alliance / dpa

Psychiater über Terror: Warum Jugendliche zu Radikalen werden

Was sind die Wurzeln des Extremismus? Und bis wann kann man die Radikalisierung stoppen? Noch fehlen Psychiatern Konzepte für eine wirksame Prävention, hieß es auf dem Kongress der DGPPN.

Radikal zu denken, bedeutet eigentlich gedanklich zur Wurzel (lateinisch: radix) eines Problems vorzustoßen. Das ist heute anders. Eine 18-Jährige aus Brüssel, die sich fast dem IS in Syrien angeschlossen hätte, findet ihre „völlige Radikalisierung“ im Rückblick verheerend: „Ich habe nicht meine Gedanken gedacht. Ich war nicht die, die ich bin.“

Doch wie entstehen solche extremen politischen und religiösen Überzeugungen, die mitunter Taten nach sich ziehen? Muss man nicht krank sein, um derart fanatisch zu denken? Diesem Thema widmeten sich kürzlich Psychiater und Psychotherapeuten beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin. „Die Welt war noch eine andere, als wir das geplant haben“, sagte dort der Psychiater Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner-Klinik Berlin. Von den jüngsten Anschlägen in Paris habe man damals nichts geahnt. „Wir dachten eher an die wachsende Pegida-Anhängerschaft.“

Vordringliche Aufgabe von Ärzten und Psychotherapeuten sei es selbstverständlich, den Opfern zu helfen. Die Aufmerksamkeit für Traumatisierung und ihren Folgen hat in den letzten Jahren ebenso zugenommen wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema.

Die Beschäftigung mit den Tätern und ihrem Gedankengut ist heikler. „Wenn wir die Entstehungsprozesse verstehen, die hinter der Radikalisierung stehen, eröffnen sich aber dadurch vielleicht neue Möglichkeiten der Vorbeugung“, sagte DGPPN-Präsidentin Iris Hauth, Chefärztin des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses in Berlin-Weißensee. Dabei dürfe man nicht allein das Individuum betrachten. „Entscheidend ist das psychologische Klima, in dem sich die Betreffenden befinden oder in dem sie aufgewachsen sind“, bestätigte Adli. Das Gefühl, sozial ausgeschlossen zu werden, und die daraus resultierende Verbitterung könnten sich durch ganze Gruppen ziehen. „Radikalisierung ist ein sozialer Prozess.“

Eine „autoritätsaffine Persönlichkeitsstruktur“ und eine Neigung zu polarisierendem Denken erhöhe allerdings die Wahrscheinlichkeit, charismatisch wirkenden, aber Hass predigenden Anführern zu folgen und deren Ideologie anzunehmen, sagte Adli. Persönlichkeitsmerkmale führten dazu, dass Menschen schneller aggressiv reagieren oder leichter gekränkt sind. Und dass sich das Gefühl verselbstständigt, im und vom Leben ungerecht behandelt zu werden. Der Berliner Psychiater Michael Linden bezeichnet das als „Verbitterungsstörung“.

Wir müssen lernen, dass die Einräumung von Freiheiten viele Leute nicht glücklich, sondern orientierungslos macht. In diesen Fällen eröffnen genau zu befolgende Vorgaben den Weg zu einem zufriedenstellenden Leben. Genau in diese - unsere - Lücke stößt der radikale Islam. An sich wäre es also nicht schwer, ihm das Wasser abzugraben.

schreibt NutzerIn wenke

Wenn Hoffnungen platzen, wird die Religion zum Fluchtpunkt

Aus der Sicht des erfahrenen forensischen Psychiaters ergänzte Henning Saß von der Universität Aachen, nur in seltenen Fällen trage eine psychische Krankheit zur Radikalisierung bei. „Es gibt fließende Übergänge von normalpsychologisch einfühlbaren Einstellungen über allmähliche Steigerungen in überwertige Ideen bis zu hoch abnormen Fixierungen des Denkens, Urteilens und Verhaltens in fanatisch-querulatorischen Haltungen.“

Und die Religion, auf die sich „Islamisten“ beziehen, welche Rolle spielt sie? Europäische Täter, die nach dem Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ begutachtet wurden, seien als Jugendliche oft mit hohen Ansprüchen und großem Freiraum der Familien gestartet. Erst später, nach dem Scheitern ihrer Hoffnungen, hätten sie „Religion“ als Fluchtort für sich erkannt, sagte Saß.

Die junge Frau aus Brüssel, die der Zeitung „Guardian“ ihre Geschichte erzählte, ist Enkelin von marokkanischen Einwanderern. Ihre Eltern erzogen sie nicht streng muslimisch. Jeans und T-Shirts tauschte sie anfangs gegen dunkle, lange und weite Kleidung, um ihre Pfunde zu verstecken. Ein Selfie auf Facebook brachte sie dann in Kontakt mit einer fanatisierten Frauengruppe – die ihr versprach, in Syrien einen guten Ehemann zu finden. Bei anderen komme die Adoleszenz-typische Rebellion gegen Eltern und Lehrer hinzu, der eine „islamische“ Dimension gegeben werde, sagte kürzlich der belgische Kulturanthropologe Johan Leman.

Bis zu welchem Punkt kann man Radikalisierung noch stoppen?

Wolfgang Huber, Bischof a. D. und Professor an der Humboldt-Universität, warnte auf dem Kongress davor, angesichts der Angst vor Terror die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft als „pauschalen Identitätsmarker“ zu verwenden. Die Religionen stünden umgekehrt vor der Aufgabe, „sich gemeinsam zu einem egalitären Universalismus der Menschenwürde zu bekennen“.

Sicher ist: Auch die Forschung steht vor großen Aufgaben. Zum genauen Ablauf der Radikalisierung und zur Frage, bis zu welchem Punkt man ihr noch entgegenwirken kann, gibt es bisher nur Hypothesen. „Der 11. September 2001 hat vieles in Gang gesetzt, aber nicht in der Präventionsforschung“, sagte Saß. „Das ist ein großes Versäumnis.“

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