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Orlando Fontes (links) und Thiago Lopes da Costa Oliveira aus Brasilien begutachten im Depot des Ethnologisches Museums eine Schale.

© SPK/Inga Kjer/photothek.net

Provenienzforschung: Das geheime Leben der Dinge im Depot

In Dahlem arbeiten Indigene aus Brasilien mit Ethnologen zusammen. "Geteiltes Wissen" ist ein Pilotprojekt musealer Forschung.

Behutsam streicht Orlando Fontes aus Brasilien über die Oberfläche eines bauchigen Keramikgefäßes. Kritisch betrachtet ein anderer Experte den farbenprächtigen Federschmuck, dessen Bestandteile er vorsichtig aus der Archivbox im Dahlemer Depot hebt. Was wissen sie beide über diese Gegenstände? Welche uralten, mythischen Erzählungen verbinden sich damit? Was bedeuten die mehr als 100 Jahre alten Objekte den Herkunftsgesellschaften, deren Kultur sie verkörpern?

Zusammen mit weiteren Vertretern indigener Gruppen aus dem nördlichen Amazonastiefland reiste Orlando Fontes im Oktober zu einem Arbeitstreffen nach Berlin. Für Projektleiterin Andrea Scholz vom Ethnologischen Museum war der zweiwöchige Workshop samt Symposium ein wissenschaftliches Abenteuer. Ihr von der Volkswagenstiftung und der Bundeskulturstiftung gefördertes Pioniervorhaben „Geteiltes Wissen“ nimmt bis 2020 rund 3000 Objekte in den Blick. Es geht um Wissensproduktion unmittelbar am Gegenstand. Vor allem aber geht es um neue Formen der Zusammenarbeit und des Austauschs auf Augenhöhe.

Die europäischen Museumswissenschaftler sehen sich in der Pflicht, ihre Deutungshoheit aufzugeben. Im Vorfeld der Eröffnung des Humboldt Forums hat die postkoloniale Debatte um die Provenienz – also die womöglich unrechtmäßige Herkunft musealer Stücke – an Brisanz gewonnen. Doch die einstigen Besitzerwechsel sind ihren angereisten Projektpartnern gar nicht so wichtig, stellte Andrea Scholz fest. Die indigenen Gesellschaften haben gegenwärtig in Brasilien, Kolumbien und Venezuela mit ganz anderen, existenziellen Problemen zu kämpfen. Trotzdem liegt Projektbeteiligten wie Diana Guzmán, die das kleine Schulmuseum einer indigenen Oberschule im kolumbianischen Mitú betreut, viel daran, dass ihr Traditionswissen und ihre Sicht der Dinge ernst genommen werden. Und sie wünschen sich Unterstützung beim Aufbau eigener Museen und Bildungsprojekte.

Nur wenn die Perspektiven wechseln, wächst das Wissen

Nur wenn die Perspektiven wechseln, wächst das Wissen. Für einen westlichen Betrachter sind Körbe, Töpfe, Netze, Hängematten und Maniokreiben vielleicht nur nützliche, kunsthandwerkliche Dinge. In ihrer Herkunftsregion aber gelten sie als Partner des Menschen. Sie können sogar Lebewesen sein: aufgeladen mit eigener Handlungsmacht. Ihnen zu begegnen, kann gefährlich sein. In ihnen leben uralte Schöpfungsmythen, die von den ersten Menschen erzählen. Und sie verkörpern, hier und jetzt, das Territorium, aus dem sie stammen: das Land, von dem sich die Indigenen heute verdrängt sehen.

Genau dort, etwa am oberen Rio Negro, reiste vor gut hundert Jahren ein emsiger deutscher Ethnologe an. Was Theodor Koch-Grünberg auf zwei mehrjährigen Expeditionen im Tausch gegen Glasperlen, Macheten und Messer einsammelte, bildet nun den Grundstock des auf fünf Jahre ausgelegten Forschungsprojekts. Anhand seiner Tagebücher und Expeditionsakten lässt sich die Sammlungsgenese ungewöhnlich gut nachvollziehen. Sammeln, klassifizieren, ordnen, bewahren: Das war schon immer die Stärke westlicher Forschung. Doch heute gilt Wissen nicht mehr als statisch.

Gleich im ersten Projektstadium hat Andrea Scholz eine Onlinedatenbank eingerichtet, die seither kontinuierlich mit neuen Fakten, Geschichten und Erkenntnissen gefüttert wird. Hier tragen alle Beteiligten – ob in Berlin oder abgelegenen Amazonasregionen – ihre Beobachtungen ein. Wenn es an einer stabilen Internetverbindung hapert, werden Papierformulare genutzt. Die multilinguale Plattform, die in sieben indigenen Sprachen zugänglich ist, wird im Humboldt Forum auch den Besuchern als lebendiger, wachsender Wissensfundus offenstehen.

Den Indigenen geht es darum, ihren Kulturen lebendig zu halten

Doch Andrea Scholz fragte sich auch: Was haben die Ursprungskulturen davon, wenn sie mit uns in Dialog treten? Sie sind mehr als Informanten, deren Wissen es abzuschöpfen gilt. Den dortigen Gruppen und Bildungsinstitutionen geht es darum, ihre Kulturen lebendig zu erhalten. Sie suchen nach Wegen, die junge Generation mit dem Wissen der Ältesten auszurüsten. Wie das gehen kann, erprobten zwei Workshops in Südamerika. Dort sah man junge Männer mit Basecaps traditionelle Körbe aus Pflanzenfasern flechten, die nur in dieser Region wachsen. Auch die Keramikgefäße sind genuin mit ihrem Territorium im Amazonasgebiet verbunden. Die Fundstellen des Tons gelten als heilig. Selbst wenn die Töpferinnen daraus nur Teller fertigen.

Als die Gäste in Dahlem die makellos erhaltenen Gegenstände in den Depotschränken sahen, waren sie tief berührt und begeistert, erzählt die Projektleiterin. Manches nämlich hat sich in den Ursprungsregionen gar nicht erhalten. Anderes erkannten die Projektpartner als vertraut und alltäglich wieder. Ein unscheinbares Baumwolltäschchen mit Steinen ließ die Besucher ehrfürchtig, fast entsetzt verstummen. Dieses Objekt ist so mächtig und heilig, dass eigentlich niemand einen Blick drauf werfen darf. Künftig wird die Tasche würdig im Depot verwahrt, aber den Blicken entzogen bleiben und mit einem Warnhinweis versehen. Auch dies gehört zum respektvollen Umgang mit den Ursprungsgesellschaften.

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