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Hochbetagte zu impfen birgt auch jede Menge Herausforderungen.

© Jon Nazca/Reuters

Priorisiert, aber nicht geimpft: Die Hochbetagten, denen das System die Impfung verwehrt

Über 80-Jährige sollen vor Jüngeren gegen Covid-19 geimpft werden. Doch aus teilweise schwer nachvollziehbaren Gründen werden einige nicht erreicht.

Sie gelten als „besonders gefährdet“: Bewohnerinnen und Bewohner von Senioren- und Altenpflegeheimen und über 80-Jährige. Solange der Impfstoff nicht für alle reicht, empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) am Robert-Koch-Institut ihnen Impfungen zuerst anzubieten, weil sie ein besonders hohes Risiko für schwere oder tödliche Verläufe einer Covid-19-Erkrankung haben.

Doch die Initiative, Impfteams in die Pflegeheime zu schicken, um dem Virus zuvorzukommen, erreicht nicht alle diese Menschen. Und einigen Seniorinnen und Senioren könnte es auch künftig unmöglich sein, sich immunisieren zu lassen.

„Es kommen akute Erkrankungen dazwischen, wegen derer sich die Menschen ins Krankenhaus begeben müssen“, sagte Hans Jürgen Heppner, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, dem Tagesspiegel. Der Arzt erlebt die Fälle in seiner Klinik: Aufenthalte im Krankenhaus verhindern, dass Impftermine wie geplant wahrgenommen werden können.

Das gleiche gilt für Rehabilitationskliniken: Die Menschen dort sind für die Dauer des Aufenthalts, der viele Wochen beanspruchen kann, für Impfprogramme nicht erreichbar.

Impfung vertretbar? Die Körpertemperatur taugt nicht recht als Entscheidungshilfe

„Ich verstehe nicht, warum die Menschen dort nicht geimpft werden dürfen“, sagt Petra Benzinger von der Universität Heidelberg. Für die Aufnahme in eine Reha-Klinik ist ein gesundheitlich stabiler Zustand Voraussetzung. Und der sollte es – anders als im Krankenhaus – eigentlich auch erlauben, dass die Menschen geimpft werden, sagt die Geriaterin.

Sie ist derzeit mit einem mobilen Impfteam in Baden-Württemberg unterwegs. In dem Bundesland wurden bislang schon über 8000 Menschen in Pflegeheimen geimpft. „Es kommt vor, dass wir Bewohnerinnen und Bewohner nicht antreffen, weil sie im Krankenhaus sind“, berichtet Benzinger. Zudem gebe es Einzelfälle, in denen Kontraindikationen vorlägen.

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Aber die vom Robert-Koch-Institut angegebene Schwelle von 38,5 Grad Celsius Körpertemperatur ist für diese Menschen nicht hilfreich. Fieber erreicht bei ihnen selbst bei einer akuten Infektion sehr selten diesen Wert. Benzinger beurteilt den Gesundheitszustand eher unabhängig von diesem Richtwert und entscheidet, ob jemand geimpft werden kann.

„Als Geriaterin weiß ich, wie schmal der Grat sein kann, auf dem die Menschen wandeln“, sagt die Ärztin. Selbst milde Reaktionen auf die Impfung könnten einigen gefährlich werden.

Bislang habe sie nur vereinzelt von der Impfung abgesehen. Und ihr wurde bislang beim Besuch für die Zweitimpfung nur von einer Bewohnerin berichtet, die nach der Erstimpfung Fieber entwickelt hatte und vorübergehend verwirrt war. Allerdings sind akute Reaktionen auch eher nach der zweiten Dosis wahrscheinlich.

Benzingers Impfteam verabreicht den RNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer. Die Stiko empfiehlt die Impfstoffdosen im Abstand von drei bis sechs Wochen zu geben. „Es entsteht ein Dilemma, weil man nicht gewährleisten kann, dass die Zweitimpfung an anderer Stelle stattfinden wird“, sagt Benzinger.

Die Pressestelle der in Berlin für das Impfprogramm zuständigen Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung teilte auf Anfrage mit, dass man zunächst davon ausgehe, dass die Menschen „im Regelfall“ erreicht würden, wenn sie wieder nach Hause oder in eine Pflegeeinrichtung kämen. Impfungen im Krankenhaus sind demnach nicht geplant.

Risikogruppe und Zusatzrisiko

Wenn Menschen ihren ersten oder zweiten Impftermin wegen eines Krankenhausaufenthaltes nicht wahrnehmen können, ist das für sie ein zusätzliches Risiko – schon während des Krankenhausaufenthaltes: Ungeimpfte sind gar nicht immunisiert, einmalig Geimpfte haben nicht den vollen Schutz.

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Es gibt zwar Hinweise darauf, dass eine gewisse Verzögerung der zweiten Impfung den Impfschutz dann sogar verstärken könnte. Wie das „British Medical Journal“ berichtete, beziehen diese sich jedoch nur auf den Vektorimpfstoff von Astrazeneca. Auch die Zahl der Probanden, an denen das verlängerte Impfregime erprobt wurde, war eher klein.

Für den Biontech/Pfizer-Impfstoff gibt es laut der Hersteller keine Belege für die Wirksamkeit einer Einzeldosis über 21 Tage hinaus. „Ich glaube nicht, dass die Verzögerung der zweiten Impfung über den empfohlenen Bereich hinaus die Immunantwort verstärkt“, sagt Heppner.

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In Großbritannien wird das Risiko, die empfohlenen Zeiträume zu überschreiten, derzeit bewusst eingegangen, um mehr Menschen zumindest einmalig impfen zu können. Laut Einschätzung der obersten medizinischen Regierungsberater haben beide Impfstoffe bereits nach einer Injektion eine „bedeutende“ Schutzwirkung.

Nach einer im "New England Journal of Medicine" veröffentlichten Studie liegt diese beim RNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer jedoch nur knapp über 50 Prozent. Das ist eine Schutzwirkung, aber deutlich geringer als die hohe Wirksamkeit von zwei Dosen mit über 90-prozentiger Schutzwirkung. Die Europäische Arzneimittelbehörde empfiehlt daher die zweite Dosis dieses Impfstoffs spätestens nach 42 Tagen zu geben.

Wenn das Impfteam schon da war

Betagte Menschen, die sich vor oder nach der ersten Impfung in stationäre Behandlung begeben müssen, sind besonders gefährdet. Denn die Umgebung Klinik kann nicht als „infektionssicher“ gelten. „Das Risiko kann man keinesfalls ausschließen, wir sehen immer wieder, dass es in Krankenhäusern zu Ansteckungen kommt“, sagt Heppner.

Zwar werden Patientinnen und Patienten bei der Aufnahme auf Sars-CoV-2 getestet. Doch das Ergebnis könne sich aufgrund der etwa zweiwöchigen Inkubationszeit zwischen Infektion und Nachweisbarkeit des Virus noch genauso viele Tage nach dem Eingangstest ändern.

„So lange kann man die Patienten natürlich nicht isolieren und daher besteht immer das Risiko von Ansteckungen im Krankenhaus“, sagt Heppner. Auch nach dem Krankenhausaufenthalt ist für viele Patienten unklar, ob und wie wie sie an ihre Impfdosen kommen, wenn inzwischen die Impfteams schon da waren. „Es gibt Einrichtungen, die zusagen, dass sie sich darum kümmern“, sagt Benzinger.

Doch mit dem Transport ist es nicht getan. Die Menschen müssten meist auch im Impfzentrum begleitet werden. Das ist eine logistische Herausforderung für die Einrichtung, und es gebe nicht immer Angehörige, die das übernehmen können. Menschen, die bereits eine Dosis erhalten haben, müssen die Impfserie laut Stiko mit demselben Produkt abschließen, was zusätzlichen organisatorischen Aufwand bedeuten kann.

In Baden-Württemberg werde überlegt, eine zweite Impfrunde zu organisieren und Pflegeheime erneut zu besuchen, wenn dort mehrere Personen Impfungen nachholen müssen.

Benzinger hofft, dass die Impfungen in Pflegeheimen für eine gewisse Herdenimmunität sorgen, die auch ungeimpfte Neuzugänge oder Wiederkehrer schützt. Sie hoffe aber auch, dass es eine zweite Runde Impfungen geben wird. Doch die erste ist noch nicht einmal durch. Auf ihrem aktuellen Team-Plan stehen auch Pflegeheime, die noch gar nicht besucht wurden.

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