zum Hauptinhalt
Foto: SPL

© Pasieka / SPL / Agentur Focus

Personalisierte Medizin: Der virtuelle Patient

Sechs Projekte konkurrieren um eine Milliarde Euro Forschungsförderung von der EU. Eine Idee kommt aus Berlin: Ein Computermodell soll Ärzten dabei helfen, für jeden Patienten eine maßgeschneiderte Therapie zu finden.

Die Medizin wartet auf eine Revolution. Bald ist sie da, munkelt man. Dann wird man die „erblichen Faktoren jeden Leidens aufdecken“, voraussagen, ob und wann jemand krank wird und die „Therapie an den individuellen Patienten anpassen.“ Das versprach der Genetiker Francis Collins 1999, als er sich mit Craig Venter ein Wettrennen um die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts lieferte. Doch die Revolution lässt auf sich warten. Die Gene nur zu lesen, reicht nicht. Man muss die Datenflut auch interpretieren.

Hans Lehrach, Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin, zeigt auf ein Bild in seinem Büro. Es ähnelt einer verwirrend detaillierten Straßenkarte Großbritanniens. „Das ist die Zukunft der Medizin“, sagt er. Die Karte ist ein Schnappschuss eines Computermodells. Es fasst das gesamte bisherige Wissen über die Vorgänge in Krebszellen zusammen. Jede Straße steht für einen Signalweg. Forscher können sie an den Tumor eines bestimmten Patienten anpassen – je nachdem, welche Sperrungen, Baustellen und Umleitungen in seinen Zellen auftauchen. „Auf dieser Grundlage können Ärzte Krebs besser behandeln“, sagt Lehrach.

In anderen Fächern sind solche Modelle selbstverständlich. Der Verkehr auf einem Flughafen wird geregelt, indem man jedem Flugzeug einen virtuellen Zwilling zuweist, der die Geschwindigkeit des Flugzeuges, seinen Standort und das Ziel kennt. Die Simulation garantiert die Sicherheit der Passagiere und warnt vor drohenden Zusammenstößen oder Abstürzen. In der Medizin, wo die Variablen ungleich komplizierter sind, sind solche Methoden noch neu.

„Jeder Automechaniker hantiert mit mehr Daten als ein Arzt“, empört sich Lehrach. Er will „virtuelle Patienten“ bauen – einen digitalen Zwilling für jeden Menschen, der von den Signalwegen in der Zelle über die einzelnen Organe bis hin zum ganzen Körper alle Vorgänge simuliert. Das Modell würde nicht nur mit der jeweils aktuellen Fachliteratur gefüttert, sondern auch mit dem kompletten Erbgut des jeweiligen Patienten, mit Informationen darüber, welche Gene in Eiweiße übersetzt werden, wie Umweltbedingungen Gene an- und abschalten und welche bakteriellen Untermieter ein Mensch etwa im Darm in sich trägt. Anatomie, Physiologie und Molekularbiologie des Menschen sollen in das Computermodell eingespeist werden und aus dem Datenwirrwarr einen Doppelgänger erschaffen. Jeder Arzt soll mit dem virtuellen Zwilling eine maßgeschneiderte Therapie für seinen Patienten finden.

Noch ist das Zukunftsmusik. Aber Lehrach hat gute Chancen, sie mit einer Milliarde Euro zum Klingen zu bringen. Mehr als 100 internationale Partner aus Universitäten, Pharmafirmen und IT-Unternehmen hat er im Projekt „IT Future of Medicine“ zusammengeführt und sich damit um eine gigantische Förderung der EU-Kommission beworben. Zwei futuristische Flaggschiff-Projekte, die IT-Lösungen für gesellschaftlich relevante Probleme entwickeln, sollen zehn Jahre lang ab 2013 jeweils 100 Millionen Euro pro Jahr bekommen. Eine Milliarde pro Projekt, zur Hälfte aus EU-Geldern, zur Hälfte von den Mitgliedsstaaten oder anderen Geldgebern finanziert. Sechs Ideen sind noch im Rennen, nur eine kommt aus Deutschland. Ende des Jahres soll die Entscheidung fallen.

Geht es nach Lehrach, so wird in Zukunft das Blut eines Neugeborenen nicht nur auf einzelne Krankheiten überprüft, sondern das ganze Genom gelesen. Mit der Krankengeschichte der Eltern wäre das eine erste Blaupause für den virtuellen Zwilling. Er wächst und altert mit dem realen Menschen. Jeder Besuch beim Arzt ist gleichzeitig ein Update für die Computersimulation. Sie warnt, wenn der Mensch krank werden könnte. Lässt sich die Krankheit nicht verhindern, kann der Arzt am Modell verschiedene Wirkstoffe testen und sich so für das beste Medikament entscheiden (siehe Grafik).

Nicht nur der Einzelne soll profitieren. Gibt der Patient sein Einverständnis, so können die Daten anonymisiert zum Beispiel an Pharmafirmen oder Zulassungsbehörden weitergeleitet werden und vor seltenen Nebenwirkungen oder Spätfolgen warnen. Sagt das Computermodell für eine bestimmte Patientengruppe immer wieder falsche Ergebnisse voraus, wird im Hintergrund nach der Ursache gesucht. Gibt es Studien, die auf falschen Annahmen beruhen? Im besten Fall wird jeder virtuelle Patient automatisch zum Faktenprüfer für die Forschung und hilft so, das Modell zu verbessern.

In großen Unikliniken soll das Modell zunächst helfen, Krebs, Herz-Kreislauf- und Infektionskrankheiten sowie seltene Erkrankungen zu diagnostizieren und zu behandeln, erläutert Kurt Zatloukal, Pathologe von der Medizinischen Universität Graz and Koordinator der medizinischen Plattform des Projekts. „Wichtig sind die virtuellen Patienten auch für die Entwicklung von Medikamenten“, sagt er. Die sei im Moment nicht effizient. „Einen Wirkstoff bis zur Zulassung zu bringen, kostet so viel wie ein A 380. Aber niemand würde einfach einen Airbus bauen und dann erst schauen, ob er abheben und landen kann. Bei Wirkstoffen dagegen bauen wir quasi einen Prototypen nach dem anderen.“

Lehrachs Projekt klingt nach Science-Fiction. Doch auch andere versuchen, die Datenflut der modernen Lebenswissenschaften nutzbar zu machen und der personalisierten Medizin den Weg zu ebnen. Der Genetiker Michael Snyder von der Stanford Universität ist überzeugt, dass zehntausende Puzzlesteine ein genaueres Bild von der Gesundheit eines Menschen liefern als die etwa 20 Variablen, die derzeit bei einem Arzttermin getestet werden. „Es ist der Unterschied zwischen einem Schnappschuss und einem Spielfilm in 3-D“, sagt er. Verteilt über 14 Monate hat er 20 Mal sein Blut untersucht und fast 20 000 Erbgutabschriften von etwa 12 000 Genen sowie etwa 1000 Stoffwechselprodukte, 6000 Signalmoleküle und andere Eiweiße aufgeschlüsselt. Zusätzlich hat er sein Immunsystem dabei beobachtet, wie es sich gegen zwei Virusinfektionen wehrte, schrieb er in der Märzausgabe des Fachjournals „Cell“.

Als Snyder sein Erbgut auswertete, fand er unter anderem ein erhöhtes Risiko für Typ-2-Diabetes. Das beunruhigte ihn nicht. Kein Familienmitglied hatte jemals an der Krankheit gelitten, er hatte kein Übergewicht und lebte gesund. Trotzdem behielt Snyder seinen Blutzuckerspiegel im Blick. Am Tag 301, zwölf Tage nach der zweiten Infektion mit Erkältungsviren, schossen seine Blutzuckerwerte in die Höhe. Er ging zum Arzt. Zwei Monate später stand die Diagnose fest: Typ-2-Diabetes. Der Forscher passte seine Lebensweise an, bevor die Krankheit Schaden anrichten konnte. „Normalerweise wäre der Diabetes ein bis zwei Jahre unentdeckt geblieben. Durch unsere Studie muss ich nicht einmal Medikamente nehmen“, sagt Snyder.

Er spekuliert, dass die Infektion indirekt die Krankheit auslöste. Während sein Körper die Erkältungsviren bekämpfte, wurden etwa 2000 Gene öfter abgelesen als sonst; etwa 2200 andere Gene wurden vernachlässigt – auch solche, die die Insulinproduktion steuern. „Wir lernen, wie unser Körper auf Umwelteinflüsse reagiert“, sagt Snyder. Um seine Erkenntnisse zu vermarkten, hat er in Palo Alto eine kleine Firma gegründet: Personalis.

Noch sind derart aufwendige Untersuchungen teuer. Doch die Technik entwickelt sich rasant. Oxford Nanopore Technologies, eine britische Firma, die sich an Lehrachs Projekt beteiligen will, verkündete kürzlich, dass sie ab 2013 mit Grid-ION innerhalb von 15 Minuten und für 1000 Dollar ein menschliches Genom entschlüsseln können. Zum Vergleich: Die erste Entzifferung des menschlichen Erbguts dauerte zehn Jahre und verschlang drei Milliarden US-Dollar.

Bernd Timmermann vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik beeindruckt das nicht. „Da werden Zeit und Kosten zur Vorbereitung der Proben und für die Bioinformatik ausgeblendet“, sagt er. Schnelligkeit sei nicht alles, entscheidender sei eine niedrige Fehlerrate. Schließlich sei jedes Modell nur so gut wie die Daten, mit denen es gefüttert wird.

Dass Lehrach sich zunächst um die Volkskrankheit Krebs kümmert, ist kein Zufall. Krebs sei eine Krankheit der Gene, betont er. Statt auf das Organ zu starren, in dem ein Tumor wächst, sollten Ärzte die molekularen Ursachen ermitteln, die zu der bösartigen Wucherung geführt haben. „Im Moment bekommen 80 Prozent der Krebspatienten eine 30 000 Euro teure Chemotherapie, von der sie nur die Nebenwirkungen zu spüren bekommen“, sagt Lehrach. Vergleiche man ein Tumorgenom mit dem einer normalen Körperzelle, so könne man hunderte Mutationen finden. „Jeder Tumor ist anders und muss möglicherweise auch anders behandelt werden.“

Seit einem Jahr koordiniert er ein weiteres EU-Großprojekt: OncoTrack. Das Konsortium will den Darmkrebs besser verstehen, neue Biomarker finden und untersuchen, wie groß die Unterschiede zwischen den Tumoren sind. Ähnlich wie beim virtuellen Patienten erheben die Forscher die unterschiedlichsten molekularbiologischen Daten und speisen sie in ein Computermodell ein. Die vorgeschlagene Therapie wird dann an Mäusen getestet, denen ein Stück des Patiententumors eingepflanzt wurde.

Der Schritt von Projekten wie diesem bis zum virtuellen Patienten ist gewaltig. Das Modell muss nicht nur die Logistik in Krebszellen abbilden, sondern das Zusammenspiel zwischen jedem Zelltyp, Geweben und Organen. „Anfangs ist es ein Gedankenexperiment mit vielen Unbekannten“, sagt Ulrich Keilholz, stellvertretender Direktor des Charité Comprehensive Cancer Centers, das sowohl bei OncoTrack als auch beim virtuellen Patienten beteiligt ist. „Ein Mensch ist kein Auto. Wir sind komplizierter und wir wissen längst nicht alles über die einzelnen Bauteile und ihr Zusammenspiel.“ Er ist überzeugt, dass die Forscher trotzdem eine Menge lernen werden: "Zum Wohle unserer Patienten."

Angesichts der Menge sehr persönlicher Informationen, die in dem Projekt über Ländergrenzen hinweg ausgetauscht und in unterschiedlichen Datenbanken gespeichert werden, müssen zwei Interessen ausbalanciert werden: die Forschungsfreiheit und das Recht der Patienten auf Privatsphäre. „Nach den Regeln der EU müssen die Daten grundsätzlich anonymisiert werden – es sei denn, sie werden gebraucht, um dem Patienten zu helfen“, sagt Paolo Balboni. Seine Anwaltskanzlei berät Lehrachs Projekt juristisch. „Wir brauchen also Filter, die allgemeine Informationen für Außenstehende zugänglich machen und die persönlichen Daten bestmöglich schützen.“ Derzeit berate die EU über den Schutz von elektronischen Gesundheitsdaten, das Projekt komme also zur richtigen Zeit: „Wir brauchen Regeln, die den Einzelnen schützen, aber gleichzeitig flexibel genug sind für visionäre Technologien.“

Ralf Sudbrak, der derzeit alle organisatorischen Fäden für den virtuellen Patienten in der Hand hat, vergleicht das Vorhaben mit dem Humangenomprojekt, an dem das MPI ebenfalls beteiligt war: „Als wir 1990 anfingen, wusste niemand ob es technisch in absehbarer Zeit machbar ist. Doch theoretisch war es möglich“, sagt er. „Mit der personalisierten Medizin sind wir an demselben Punkt: Wir wissen, dass sie irgendwann kommt.“ Der Revolution fehlten bisher nur die richtigen Instrumente.

Zur Startseite