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Roher Stoff. Aus den Samenkapseln des Schlafmohns wird Opium gewonnen – Rohstoff für Opioide, die zur Schmerzbehandlung eingesetzt werden.

© picture alliance/dpa/Uwe Zucchi

Palliativmedizin: Mythos Morphium

Für die Behandlung von Schmerzen sind die Abkömmlinge des Opiums unerlässlich. Doch es gibt Vorbehalte gegen die Opioidtherapie - oftmals zu Unrecht.

Es ist ein gutes Zeichen, wenn der Verbrauch von starken Schmerzmitteln auch in Deutschland zugenommen hat. Schließlich wird unsere Gesellschaft älter und leidet entsprechend an den Folgen eines langen Lebens. Dazu gehören natürlicher Verschleiß, aber auch chronische Krankheiten, die Schmerzen verursachen, deren Ursache man nicht mehr beseitigen kann. Häufig helfen Opioide. Sie sind Abkömmlinge des aus den Samenkapseln der Mohnpflanze gewonnenen Opiums (Hauptbestandteil: Morphin). Man setzt Opioide zur Behandlung starker Schmerzen und bei ausgeprägter, sonst nicht behandelbarer Luftnot ein. Dennoch verhindern etliche Mythen, dass Opioide dort verwandt werden, wo sie eingesetzt werden sollten, ja müssten.

Mythos 1: Opioide beschleunigen das Sterben

Diese Aussage trifft nicht zu. Untersuchungen haben gezeigt, dass Opioide – in richtiger Dosis angewandt – das Sterben weder beschleunigen noch hinauszögern. „Morphium“ ist in den Augen mancher mit den letzten Tagen im Leben verknüpft. Doch chronische Schmerzpatienten kommen damit oft über viele Jahre gut zurecht.

Mythos 2: Opioide machen abhängig

Opioide führen bei Schmerzpatienten nicht zwangsläufig zur psychischen Abhängigkeit, also dem sogenannten „Craving“ – dem Verlangen, immer mehr davon zu wollen. Erhalten Patienten mit chronischen Schmerzen mehrmals am Tag kurz wirksame Opioide, ist allerdings die Gefahr der psychischen Abhängigkeit durchaus gegeben. Das trägt dazu bei, dass Patienten von diesen Präparaten, wie etwa Tilidin oder Tramadol-Tropfen nicht mehr loskommen. Es ist daher sinnvoll, chronische Schmerzpatienten mit Opioiden einzustellen, die ihre Wirkung langsam entfalten und über zwölf Stunden erhalten. Bei regelmäßiger Einnahme sind Opioidrezeptoren kontinuierlich belegt, sodass die nächste Dosis nicht plötzlich euphorisiert.

Mythos 3: Habe ich keine Schmerzen mehr, kann ich Opioide sofort absetzen

Beim längeren Gebrauch von Opioiden kommt es zu einer körperlichen Abhängigkeit. Sie führt dazu, dass bei abruptem Absetzen Entzugserscheinungen wie Schwitzen oder Übelkeit einsetzen. Durch schrittweises Reduzieren lässt sich das begrenzen.

Mythos 4: Habe ich einmal mit Opioiden angefangen, muss die Dosis immer weiter erhöht werden, bis die Medikamente irgendwann gar nicht mehr wirken

Das ist eine weitere Fehlannahme. Niemand muss befürchten, dass man bei stabiler Schmerzsituation die Dosis von Morphin und seinen Abkömmlingen immer weiter erhöhen muss, um den gleichen lindernden Effekt zu erreichen.

Mythos 5: Opioide führen zur lebensgefährlichen Atemdepression

Aus Angst, dem Patienten zu schaden, wird in vielen Fällen die Dosis der effektiven Schmerzbehandlung zu niedrig angesetzt. Zugleich verführen Schmerzpflaster zur „bequemen“ Schmerztherapie bei Patienten, die noch keine Opioide hatten. Sie werden schnell überdosiert, eine Folge ist, dass die Atemfrequenz deutlich sinkt (Atemdepression). Kommt es dann im Verlauf der Erkrankung zu einem steigenden Schmerzmittelbedarf, werden Opioide aufgrund der Erfahrungen zurückhaltend eingesetzt. Entwickelt ein Patient eine Verringerung seiner Atemzüge, obwohl die Dosis des Opioids nicht verändert wurde, kann das auch durch Veränderungen der Organfunktionen bedingt sein. Aus diesem Grund sind Patienten und ihre Angehörigen darüber aufzuklären, die behandelnden Ärzte sollten die Therapie genau überwachen.

Mythos 6: Die dauerhafte Einnahme von Opioiden schädigt die Organe

Abkömmlinge des Opiums in entsprechend zubereiteter und medizinisch anwendbarer Form gehören zu den sichersten Arzneimitteln überhaupt. Es sind keine Auswirkungen auf die Nieren- und Leberfunktion oder das Kreislaufsystem und die kognitiven Leistungen bekannt.

Mythos 7: Unter Opioiden wird mir übel und bin ich fahruntüchtig

Opioide führen lediglich bei ihrer ersten Anwendung oder bei Höherdosierung kurzzeitig bei vielen Patienten zu Müdigkeit. Solange die Patienten nicht stabil eingestellt sind, können sie auch kein Fahrzeug führen. Gegen die Anfangsbeschwerden, die eine Opioidtherapie begleiten, entwickeln die meisten eine Toleranz. Das heißt, danach können sie eigenverantwortlich Maschinen bedienen oder Fahrzeuge steuern. Zwar dürfen Verkehrsteilnehmer grundsätzlich nicht unter dem Einfluss berauschender Mittel ein Kraftfahrzeug steuern, dies gilt aber nicht, wenn ein entsprechendes Medikament zur Behandlung einer Krankheit verschrieben wurde. Außerdem gibt es eine Reihe von Krankheiten, bei denen erst durch entsprechende Arzneimittel das Führen von Kraftfahrzeugen wieder möglich ist. Gegen die unter Umständen andauernden unerwünschten Wirkungen von Morphin und seinen Abkömmlingen gibt es wirksame Gegenmittel – etwa Abführmittel gegen Verstopfung.

Mythos 8: Bei starken chronischen Schmerzen kann man auf Opioide nicht verzichten

Während es also im Prinzip gut möglich ist, Menschen, die unter Schmerzen oder Luftnot leiden, mit Opioiden zu behandeln, wird die Verschreibung in Industrieländern mittlerweile übertrieben. So werden Patienten, die auch ohne solche Schmerzmittel zurechtkommen, Opioide verabreicht. Wenn sie dann nicht helfen, etwa bei chronischen Kopf- oder Rückenschmerzen oder aus anderen Gründen, führen Patienten die Behandlung weiter, aus Angst, die Schmerzen würden sich verschlimmern, wenn die Medikamente abgesetzt würden. Schmerz ist ein vom Patienten wahrgenommenes und ausgedrücktes Empfinden und jeder weiß, manche Menschen können Schmerzen besser ertragen als andere. Manchmal genügt ein Wärmekissen oder Ablenkung. Natürlich sollte die Ursache der Schmerzen ergründet und dagegen angegangen werden.

Mythos 9: Opioide werden in Deutschland zu häufig eingesetzt

Das weiß man nicht genau. Von den 500 000 Menschen, die in Deutschland jährlich palliativmedizinisch versorgt werden müssten, erhalten gegenwärtig nur etwa 100 000 eine ambulante oder stationäre palliativmedizinische Versorgung. Zwei von drei Palliativpatienten leiden unter Schmerzen. Bislang erhalten vor allem Krebspatienten eine palliativmedizinische Unterstützung und nicht Menschen mit fortgeschrittenen und in Wochen bis Monaten zum Tode führenden chronischen Herz-, Lungen-, Nieren-, Nervenleiden. Auch diese Menschen haben starke Schmerzen. Auch sie bedürfen einer Opioidtherapie.

Mythos 10: Opioidtherapie beherrscht jeder Arzt

Zur Behandlung von Patienten mit starken Schmerzen oder Luftnot gehört Erfahrung. Nicht jeder Arzt hat auf jedem Gebiet gleich viel Erfahrung. Das führt dazu, dass Patienten nicht gut genug mit Opioiden versorgt werden, wenn weniger erfahrene Mediziner die bewährte Therapie bei einem Patienten umstellen – zum Beispiel im Krankenhaus, nach Unfällen oder bei Arztbesuchen im Urlaub. Deshalb empfiehlt es sich für die Patienten, die regelmäßig Opioide einnehmen, einen Ausweis bei sich zu haben. Dort sind Art und Dosierung der Opioidanalgetika aufgeführt. Man kann ihn bei der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie oder der Deutschen Schmerzliga e.V. anfordern.

Mythos 11: Opioide müssen streng reguliert und ihre Abgabe reglementiert werden

Aus meiner Sicht ist es weiterhin ratsam, den Verbrauch von Opioiden wie bei anderen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zu kontrollieren und ihre Abgabe zu reglementieren. Ob ein einfaches Rezept allerdings tatsächlich den Missbrauch fördert, ist keineswegs gesichert und sollte in Modellversuchen erprobt werden. Leider gibt es noch immer Ärzte, die keine Betäubungsmittel verordnen, weil sie den bürokratischen Aufwand scheuen, sich die komplizierten Betäubungsmittelrezepte zu besorgen und sie korrekt auszufüllen. Damit enthalten sie ihren Patienten Opioide vor.

Mythos 12: Ein Patient mit starken Schmerzen im Pflegeheim kann problemlos Opioide erhalten

Leider ist dem nicht so. Etwa jeder dritte Deutsche stirbt gegenwärtig in einem Pflegeheim. Schmerzen sind dort ein großes Thema. Da Pflegeheime jedoch keine Arzneimittel für alle Bewohner für den Bedarfsfall deponieren, sondern diese nur für jene verwahrt werden, denen sie der Hausarzt verordnet hat, kommt es bei vielen anderen zu einer Unterversorgung von Schmerzmitteln. In vielen Regionen gibt es keine Regelungen zwischen Pflegeheimen und Hausärzten, sodass deren Besuche nicht oder nur sehr sporadisch stattfinden. Kommt dann einmal ein Hausarzt für Patient A ins Pflegeheim und wird mit Patient B konfrontiert, der unter Schmerzen leidet, kann er ihm leider keine Opioide verordnen, weil er ja nicht zuständig ist. Im Pflegeheim gibt es aufgrund starrer gesetzlicher Regelungen keinen Arzneimittelvorrat.

Gut ist es, wenn solche Patienten in ein ambulantes palliativmedizinisches Netzwerk eingeschlossen sind. Dann können die Pflegekräfte den diensthabenden Palliativmediziner hinzuziehen. Doch auch er darf offiziell keine Opioide für das Wochenende im Heim lassen. Gibt es keine Angehörigen, kann niemand in die Apotheke fahren und die Schmerzmittel am Wochenende auftreiben. Das Dilemma bleibt bestehen. Pflegeheime müssen also für solche Fälle zumindest ein kleines Depot wirksamer Arzneimittel für die palliativmedizinische Grundversorgung für alle Bewohner parat haben dürfen. Das ist bis heute nicht gestattet und eine der Folgen von zu wenig Aufklärung über Mythen, die eine Therapie mit Opioiden immer noch umgeben.

Der Autor ist Krebs- und Palliativmediziner an der Cecilien-Klinik in Bad Lippspringe.

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