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Praktisch. Die kleinen Klingen dienten Jagd und Handwerk.

© Nature/ Benjamin Schoville

Paläoanthropologie: Scharfer Verstand

Bereits vor 71 000 Jahren fertigten Menschen mit großem Aufwand scharfe Klingen. Bald darauf entwickelten sie Pfeil und Bogen. Das zeugt von erstaunlichen geistigen Fähigkeiten.

Seit mindestens 100 000 Jahren besiedelt Homo sapiens die Erde. Doch seit wann der moderne Mensch zu komplexen Gedankengängen fähig war, ist umstritten. Während die einen Perlen, Malerei und Schnitzereien als Indikator dafür sehen, dass die Menschen schon sehr früh Symbole benutzten, ist für andere das Auftauchen ausgeklügelter Werkzeuge wie Pfeil und Bogen entscheidend. Denn diese Fernwaffen sicherten nicht nur das Überleben, indem sie den Jagderfolg vergrößerten und die Gefahr für Leib und Leben verkleinerten. Sie herzustellen, erforderte Erinnerungsvermögen, Planung und handwerkliches Können.

Ein internationales Forscherteam um den Archäologen Kyle Brown von der Universität von Kapstadt hat nun in der Höhle von Pinnacle Point an der Südküste Südafrikas etliche filigrane Steinklingen gefunden, die nicht weniger als 71 000 Jahre alt sind. Wie die Wissenschaftler im Fachmagazin „Nature“ berichten, waren diese Klingen wahrscheinlich Pfeil- oder Wurfspeerspitzen.

Die geometrisch geformten, nur ungefähr zweieinhalb bis drei Zentimeter langen Artefakte bestehen meistens aus eingekieseltem Sedimentgestein (Silcrete). Das Material wurde in Feuerstellen gehärtet. Die Produktion der winzigen Klingen erfordere einen gewaltigen Aufwand, schreiben die Forscher: Die Menschen mussten das seltene Material finden und einsammeln, außerdem mussten sie Holz zu den Feuerstellen schaffen; das Material musste vorbereitet und in den Feuerstellen kontrolliert erhitzt und bearbeitet werden. Schließlich mussten die Klingen durch seitliche Einkerbungen herausgebrochen und an entsprechenden Holzhalterungen befestigt werden. Das habe mindestens Tage, möglicherweise – mit Unterbrechungen – Wochen oder Monate gedauert und erforderte zielgerichtetes Handeln und somit recht gute kognitive Fähigkeiten.

Außerdem konnten die Archäologen nachweisen, dass die kleinen Klingen etwa 10 000 Jahre lang kontinuierlich produziert wurden, die kontrollierte Erhitzung an Feuerstellen beherrschten die Höhlenbewohner an dem Ort sogar über einen Zeitraum von 100 000 Jahren. Sie haben ihr Wissen also von Generation zu Generation weitergegeben. Damit sei die landläufige Auffassung widerlegt, dass den Menschen der Altsteinzeit höchstens alle Jubeljahre eine technische Innovation gelungen ist – vorausgesetzt, dass der Zufall ihnen kräftig unter die Arme gegriffen hat – und sie dieses Können schnell wieder vergaßen.

Diese Hypothese kam auf, weil in Afrika bislang nur selten Belege für nachhaltige Erfindungen entdeckt worden sind. Dieser Umstand habe aber vor allem damit zu tun, dass es in Afrika vergleichsweise wenige Ausgrabungsstätten gibt, argumentieren die Forscher.

Ähnlich sehen es Marlize Lombard von der Universität von Johannesburg und Miriam Haidle, die an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften das Projekt „Die Rolle der Kultur in der frühen Ausbreitung des Menschen“ koordiniert. Wie die Wissenschaftlerinnen im „Cambridge Archaeological Journal“ berichteten, stießen sie 2009 in der Sibudu-Höhle in Südafrika auf die Überreste von Bögen und Pfeilen. Bald darauf stellte sich heraus, dass die Fundstücke ungefähr 64 000 Jahre alt sind.

Laut Lombard und Haidle haben Hominiden schon vor 2,5 Millionen Jahren eine Vielzahl von Werkzeugen verwendet und auch schon Werkzeuge zur Herstellung weiterer Werkzeuge hergestellt. Vor 200 000 bis 300 000 Jahren war man immerhin bereits imstande, Geräte aus mehreren Elementen zusammenzubauen und beispielsweise Holzspeere mit Steinspitzen auszurüsten. Dagegen sei ein Gerät wie Pfeil und Bogen ein äußerst komplexes Gebilde, dessen Erzeugung erheblich höhere Anforderungen an das Denkvermögen stellt.

Auch hier sind etliche Arbeitsschritte und präzise langfristige Planung erforderlich. Lombard und Haidle errechneten, dass für die Anfertigung eines primitiven Bogens samt Pfeilen mit Vorschaft und Steinspitze zehn verschiedene Werkzeuge erforderlich, und 22 Rohmaterialien sowie drei Halbfertigprodukte (darunter Mehrkomponentenklebstoff und Bindematerial aus Sehnen und Pflanzenfasern) zusammengefügt werden müssen. „Schon der Bogen hat verschiedene Komponenten: Holm, Sehne und dann gibt es oftmals eine Art Griff, damit man den Bogen besser halten kann“, sagt Haidle. „Man muss die Sehne oben befestigen – und zwar so, dass sie wirklich Spannung aushält. Das ist etwas anderes als Bögen, die Kinder bauen.“

Die beiden Wissenschaftlerinnen vermuten, dass etwa zur gleichen Zeit wie Pfeil und Bogen die ersten Tierfallen – die frühesten Automaten der Menschheitsgeschichte – aufgekommen sind. Und dass die Erfindung von Pfeil und Bogen unmittelbar zu weiteren Erfindungen wie den Bohrer oder Saiteninstrumente geführt haben könnte. „Wir haben Belege,dass Buschleute in Südafrika Bögen als Saiteninstrumente benutzten“, sagt Lombard. „Darunter sind violinenähnliche Geräte, die mit einem Stab gestrichen wurden und den Mund als Klangraum nutzten. Aber sie können auch nur gezupft werden, als einfache Gitarre.“

Kyle Brown und seine Kollegen führen noch einen weniger friedlichen Vorteil von Pfeil und Bogen an. Als Homo sapiens nach Norden wanderte und auf den Neandertaler traf, war es vermutlich auch eine überlegene Waffe.

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