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NS-Zeit: Vielgesichtige Täter

Psychopathen-Clique oder motivlose Befehlsempfänger: So werden in der Öffentlichkeit bis heute Holocaust-Täter wahrgenommen. Beide Bilder greifen zu kurz, sagten jetzt Historiker auf einer Konferenz in Berlin.

Zwei Extreme dominieren bis heute das öffentliche Bild von den Holocaust-Tätern: Auf der einen Seite steht die verbreitete Vorstellung von einer Psychopathen-Clique, einem kleinen Verbrecherkreis, der Verfolgung und Mord organisierte. Andererseits erklärt man die Verantwortlichen – etwa mit Hannah Arendts These von der „Banalität des Bösen“ – zu motivlosen Schreibtischtätern, Technokraten und Befehlsempfängern. Das Fazit nach dem Holocaust-Kongress „Täterforschung im globalen Kontext“, der am gestrigen Donnerstag in Berlin endete, muss jedoch lauten: Beide Bilder greifen zu kurz.

Wer die Judenvernichtung als ein Werk bürokratischer Vollstrecker sehe, blende aus, „mit wie viel Eigenständigkeit, Enthusiasmus und sogar Kreativität“ etliche der Täter vorgingen, sagte Richard Overy, Historiker an der Universität Exeter, im Eröffnungsvortrag. Auch das andere Extrem, den „Mythos von den Ausnahme-Radikalen“, lehnte er ab: Diese Diabolisierung diene dazu, die Verantwortung auf einen kleinen Zirkel zu schieben und die Gesellschaft zu entschulden.

Wie sehr sich breite Kreise der Bevölkerung für den Holocaust als „arbeitsteiliges Projekt“ begeisterten, zeichnete der Essener Sozialpsychologe Harald Welzer nach. Zwischen 1933 und 1941 sei eine eigene „nationalsozialistische Moralwelt“ entstanden. Sie gewöhnte die Bevölkerung schrittweise an die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden: „Noch 1933 wären öffentliche Deportationen undenkbar gewesen“, argumentierte Welzer. Nach jeder dann überschrittenen Grenze – Demütigungen, Boykotten, Übergriffen – empfanden Beobachter oder Täter „vielleicht kleine moralische Bauchschmerzen“. Wer aber einmal Dissonanzen überwinde, sei dann auch gewappnet, radikalere Schritte zu akzeptieren – bis hin zur systematischen Judendeportation, die 1941 begann.

Sicher habe es anfänglich Entsetzen gegeben, aber dann sei man „eigentlich relativ cool geworden, wie man das heute so sagt“, erinnert sich etwa eine Anwohnerin des österreichischen KZ Gusen in einem der vielen Zeitzeugen-Interviews, die Welzer zitierte. Verfolgung und Mord konnten sogar zu einer Routine werden, die Welzer als „professionelle Tötungsarbeit“ beschreibt. Täter schilderten in Tagebüchern oder Briefen einen Holocaust-Alltag, den sie als „Job wie jeder andere“ empfanden – mit Arbeitsphasen und Kaffeepausen, unfähigen Kollegen, Büroärger und Alltagshürden. Das alles geschah aber nicht unreflektiert, betont Welzer: Den Tätern sei ihr Handeln nicht amoralisch erschienen, sondern sinnvoll. Sie empfanden sogar eine Art „Arbeits- und Produktstolz“, an der „Endlösung der Judenfrage“ mitgewirkt zu haben.

Schon ab 1933 nutzten die Nationalsozialisten den öffentlichen Raum, um Gewalt und Täterschaft als Routinen zu eta blieren. Michael Wildt, Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung, zeigte das in seinem Vortrag am Beispiel von Prozessionen, in denen Juden durch Städte getrieben und dabei ausgelacht, bespuckt oder geschlagen wurden.

Solche „Volksspektakel“ zogen bereits wenige Wochen nach Hitlers Machtübernahme bis zu 1000 Zuschauer an. Die Märsche, meist organisiert von SA-Trupps, demonstrierten die Machtlosigkeit der Opfer und die Machtfülle der Täter, erklärte Wildt. Sie forderten dadurch, von jedem einzelnen Zuschauer, eine Position zu beziehen: Zuschauen oder Eingreifen? Mitglied dieser Gemeinschaft werden oder sich außerhalb stellen?

Dass Inklusion und Exklusion erklären können, warum jemand zum Täter wird, unterstrichen alle Konferenzbeiträge. Gewalt diene häufig zur Vergemeinschaftung und gebe Gruppen ein „Gefühl der Selbstermächtigung“, sagte Michael Wildt. Bildungsexperten und Lehrer forderten, dass das Verhindern von Ausgrenzungsprozessen im Mittelpunkt der Arbeit mit Schülern stehen müsse. Richard Overy wies zudem darauf hin, dass alle Menschen für solche Reize anfällig seien. Das zeigten psychologische Studien wie das „Stanford-Prison-Experiment“ von 1971, bei dem Studenten per Zufall in Wärter und Gefangene unterteilt wurden und es rasch zur Eskalation kam.

Zugehörig zu sein, könnte auch für viele Frauen ein Motiv gewesen, sich am Holocaust zu beteiligen. In Selbstzeugnissen finde sich immer wieder ein gewisser Stolz darauf, durch die Arbeit im KZ oder als Krankenschwester im Euthanasie-Programm „Teil der Männerwelt“ zu sein, sagte die britische Geschichtswissenschaftlerin Elizabeth Harvey. Die nationalsozialistische Rassenhierarchie habe „neue Wege zur Verwischung der Geschlechter eröffnet“: In den besetzten Ostgebieten hatten Frauen Macht über die nicht deutsche Bevölkerung und werteten das als „Aufstiegschance“ oder schlicht als „interessanten Beruf“.

Die „vielen Gesichter der Täter“ fanden sich auch in David Silberklangs Studie zu den Kommandanten polnischer NS-Arbeitslager. Entscheidungen über Leben und Tod seien mit größter Willkür getroffen worden. „Das Verhalten der Täter war oft widersprüchlich, nie vorhersehbar“, sagte Silberklang (Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem). Ein Lagerleiter, der seinen Sohn mit jüdischen Kindern spielen ließ, habe anderntags im Exzess zwei Dutzend jüdische Häftlinge erschossen.

Für die Holocaust-Opfer wurden diese „vielen Gesichter“ der Exekutoren zu einem der größten Verhängnisse: Wenn die Täterseite unberechenbar ist, können kaum Überlebensstrategien oder Fluchtpläne ersonnen werden. Von welchen Annahmen sollten sie ausgehen, wo sollten sie nach Verbündeten suchen? Mehr noch als auf alles andere, fasste daher Silberklang zusammen, mussten die Verfolgten auf das Glück hoffen.

Tina Rohowski

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