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Zwangsarbeiterlager. Die Arbeiterinnen in der NS-Zeit hinterließen auf dem Tempelhofer Feld Überbleibsel, die ihre Lebensumstände erhellen können.

© Doris Spiekermann-Klaas

NS-Forschung: Mehr Imagination wagen

Der Archäologe Reinhard Bernbeck sucht Spuren der NS-Zeit auf dem Tempelhofer Feld in Berlin – und fordert mehr Mut zum Interpretieren.

Man könnte das kleine Ding glatt übersehen. Es ist kein vollständiges Schmuckstück, keine Kette, keine Brosche. Nur ein fünf Zentimeter langer, ovaler Glaseinsatz mit einer Rille am Rand. Bedeutungslos? Keineswegs, sagt Archäologe Reinhard Bernbeck, Professor für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität, dessen Team das Glas auf dem Gelände des Tempelhofer Feldes ausgegraben hat. Über 1000 Zwangsarbeitslager gab es in den 1940er Jahren in Berlin, eines davon auf dem ehemaligen Flughafengelände. Hier standen auch die Baracken der sowjetischen Zwangsarbeiterinnen, die für die Firma Weserflug unter schwersten Lebens- und Arbeitsbedingungen Kriegsflugzeuge montieren mussten.

Das ist bekannt – und doch erzählt das gläserne Überbleibsel eine neue, eine eigene Geschichte. Gefunden wurde es, zusammen mit unzähligen weiteren Utensilien, in einem Splitterschutzgraben am Rand des eingezäunten Lagers. Also dort, wohin sich die Frauen flüchteten, wenn Bombenangriffe drohten. Warum hatte die Zwangsarbeiterin überhaupt ein persönliches Schmuckstück bei sich? „Hatte sie die Brosche im Transport versteckt oder als Ausweis ihrer Selbstachtung getragen?“, überlegt Bernbeck. Trug sie sie „zur Arbeit oder in den wenigen Ruhestunden zwischen Schlaf und Ausbeutung im Flughafen?“

Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Die aber, und das ist das Besondere an Bernbecks Ansatz, unbedingt gestellt werden sollten. Auch wenn die Besitzerin für immer anonym bleiben wird, auch wenn ihre näheren Lebensumstände nicht mehr rekonstruierbar sind. Trotzdem entreiße das Nachdenken über das Glassteinchen sie dem Vergessen.

Aber ist es überhaupt nötig, das 20. Jahrhundert und insbesondere die NS-Zeit mit archäologischen Methoden unter die Lupe zu nehmen? Gibt es nicht ausreichend andere Quellen? Die Geschichte der Zwangsarbeits- und Konzentrationslager lässt sich auch anhand von Zeitzeugenberichten, Fotografien, Bauplänen erforschen. Braucht es zusätzlich Grabungen? Vor allem in Berlin, wo buchstäblich unter jeder Gehwegplatte etwas verborgen sein könnte – sollte man da die Vergangenheit im Erdboden nicht einfach ruhen lassen?

Aufmerksamkeit und Fingerspitzengefühl

Bernbeck kennt diese Argumente nur zur gut, weist sie aber entschieden zurück. „Man kann nicht einen Teil der Geschichte weglassen, damit sie erträglicher wird.“ Wenn Überreste aus der jüngsten Vergangenheit zutage kommen, müsse man immer genauer hinschauen. Und noch mehr Aufmerksamkeit und Fingerspitzengefühl sei gefragt, wenn (wie 2014 auf dem Gelände der Freien Universität) menschliche Überreste gefunden würden.

Ausgrabungen liefern zunächst nur ortsspezifische Details, Objekte vom Nagel bis zum alten Mauerwerk. Man dürfe deshalb nicht erwarten, „dass eine Archäologie der Zeitgeschichte die bestehenden historischen Narrative umwälzt“. Es geht eher um Korrekturen und Ergänzungen. Erkenntnisse, die die Geschichtswissenschaft aus anderen Quellen herleitet, können durch Objektfunde bestätigt – oder auch widerlegt werden. Beispiel Splitterschutzgraben: Bisher wurde vermutet, dass die Zwangsarbeiterinnen nur bei Bombenangriffen in den Gräben ausharrten. Die auf dem Tempelhofer Feld gefundenen Objekte aber – darunter auch ein Kondom – sprechen eine andere Sprache. Vielleicht waren die Gräben eben nicht nur „Stätten des angstvollen Wartens“, meint Bernbeck. Sondern „zu anderen Zeiten auch schlicht Aufenthaltsorte, allerdings auch potentielle Orte sexueller Gewalt“. Ausgeübt von Wärtern, erlitten von Zwangsarbeiterinnen.

Bernbeck kann das nicht vollständig beweisen, traut sich aber trotzdem, diese Überlegungen in sein neustes Buch („Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors“) einfließen zu lassen. Damit stellt sich der Wissenschaftler quer zu den üblichen Vorgehensweisen seiner Zunft. Spekulieren, mutmaßen – das ist in der archäologischen Forschung verpönt. Man hält sich an das Messbare: an die Auflistung und Kategorisierung von Artefakten. Bernbeck sieht das kritisch. „Objektivistisch, empirisch und eng datenbezogen“ – das reiche als Methode nicht aus, wenn man sich mit der Zeitgeschichte beschäftigt. Die kühle Herangehensweise sei sogar ethisch problematisch: „Eine Archäologie der Nazi-Zeit kann meines Erachtens niemals einen rein beschreibenden Standpunkt einnehmen, ohne diese Geschichte zu verfälschen.“ Wer nur sachlich auflistet, verschweige den wesentlichen Kern: „das menschliche Leiden“.

"Interpretativer Überschuss"

Bernbeck verlangt mehr von den Kolleginnen und Kollegen als routinierte Bestimmungen und trockene Diskurse. Seine Kernthese ist provokant. Sie lautet: Eine Archäologie der Zeitgeschichte darf und muss mit Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft arbeiten. Das heißt nicht, dass Wissenschaftler ihrer Phantasie freien Lauf lassen oder die Lücken ihres Wissens mit Vermutungen zukleistern sollen. Bernbeck plädiert für eine „disziplinierte Imagination“, für einen „interpretativen Überschuss“, wie er es nennt. Dass dabei methodisch sauber vorgegangen werden müsse, verstehe sich von selbst. „Die Fakten geben den Rahmen vor.“ Aber innerhalb dieses Rahmens sind imaginierte Szenarien erlaubt. Wie könnte es möglicherweise gewesen sein?

Dass Vorderasien-Experte Bernbeck einen Schwerpunkt seiner Forschung in den letzten Jahren auf deutsche Zeitgeschichte gelegt hat, dafür gibt es auch autobiografische Gründe. Lange hat der Archäologe an US-amerikanischen Hochschulen gelehrt. Parallel dazu hat er als Übersetzer für das Internationale Rote Kreuz in Konfliktregionen gearbeitet. 1991 und 2001 hat er Gefangenenlager in Afghanistan besucht. Von 2002 bis 2009 war er immer wieder in humanitärer Mission in Guantànamo. „Das trage ich mit mir herum, das werde ich nicht mehr los“, sagt er.

Jetzt versucht Bernbeck, die vergessenen Opfer der Berliner Lager zurück ins öffentliche Bewusstsein zu holen. 90 000 Einzelstücke haben er und sein Team seit 2012 auf dem Tempelhofer Feld bei der Suche nach dem Zwangsarbeitslager und dem weitgehend vergessenen KZ Columbiahaus ausgegraben. Nun heißt es sortieren, vermessen, kategorisieren. Die Fleißarbeit wird Jahre dauern. Genauso wie die Auswertung der Knochenfunde auf dem FU-Gelände, die Bernbecks Kollegin Susan Pollock betreut. Auch hier ist noch immer nicht geklärt, um wessen sterbliche Überreste es sich nun eigentlich handelt. Doch trotz der akribischen Auswertungen, die noch vor ihm liegen, bleibt für Bernbeck ein Gedanke zentral: „Man darf den anfänglichen Schrecken nicht vergessen.“ Der nämlich auch Wissenschaftler durchzuckt, wenn sie Eheringe, Medaillons oder zerbrochene Puppen aus dem Boden holen. - Reinhard Bernbeck, „Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors. Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte“, Bielefeld 2017.

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