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Vernichtet. Bewohner des Warschauer Ghettos vor dem Abtransport nach Treblinka (undatierte Aufnahme).

© picture alliance / dpa

NS-Aktion Reinhard: Die Effizienz der Mordmaschine

Bei der Aktion Reinhard brachte Nazi-Deutschland im Jahr 1942 in kurzer Zeit weit mehr Opfer um als gedacht, zeigt eine neue Studie.

Ein Viertel aller Opfer des Holocaust verlor ihr Leben in nur drei Monaten – im Zuge der „Aktion Reinhard“. Das geht aus einer Studie von Lewi Stone, Professor für Mathematische Biologie an der Universität Tel Aviv und der RMIT Universität in Melbourne, hervor, die jetzt im Wissenschaftsmagazin „Science“ veröffentlicht wurde. Demnach hat die Geschichtsforschung die Aktion Reinhard bisher deutlich unterschätzt, nicht zuletzt, weil die Nazis die Operation geheim halten wollten und sämtliche Dokumente darüber zerstörten und nur wenige Zeugen überlebten.

Mit der Aktion Reinhard sollten alle Juden und Roma im Generalgouvernement, also dem von Deutschland besetzten Polen und der Ukraine, vernichtet werden. Die Aktion begann im März 1942 und währte 21 Monate, bis zum November 1943. In den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka wurden Gaskammern eingerichtet, die den industriellen Massenmord erst möglich machten – gemeinsam mit dem Schienennetz und der Effizienz der bei der Reichsbahn rund 1,4 Millionen Beschäftigten, wie Stone hervorhebt.

Die meisten wurden binnen dreier Monate umgebracht

Während bereits bekannt ist, dass bei der Aktion Reinhard insgesamt etwa 1,7 Millionen Juden umgebracht wurden, kann Stone zeigen, dass die meisten davon in nur drei Monaten starben, im August, September und Oktober 1942. Allein im August und September habe Nazi-Deutschland jeweils fast eine halbe Millionen Menschen vergast oder erschossen. Dabei stützt Stone sich auf Daten des israelischen Historikers Yitzhak Arad, der Statistiken der Reichsbahn ausgewertet sowie Daten aus den drei Vernichtungslagern gesammelt hat.

Die Aktion Reinhard ist laut Stone also nicht nur die größte Mordaktion während des Holocausts gewesen. Sie sei auch sehr viel schneller durchgeführt worden als bislang gedacht. Das hohe Tempo sei besonders nach Himmlers Befehl vom 19. Juli 1942 angeschlagen worden, wonach bereits bis zum Dezember 1942 alle Juden im Gebiet des Generalgouvernements vernichtet werden sollten. Ab dem 22. Juli steigen die Zahlen der Deportierten mit der beginnenden Auflösung des Warschauer Ghettos deutlich an.

In die Vernichtungslager kamen weit mehr Transporte als früher

Die Berechnungen liegen nahe an dem Bericht von Rudolf Reder aus dem Jahr 1944. Reder gehörte zu den wenigen Überlebenden von Belzec. Er erklärte, es seien im September, Oktober und November 1942 weit mehr Transporte angekommen als zuvor, manchmal seien dreimal täglich 50 Waggons mit jeweils hundert Gefangenen eingetroffen. Mindestens 10.000 Opfer seien täglich umgebracht worden.

Stone schreibt, das hohe Tempo der Vernichtung habe es den Juden auch unmöglich gemacht, Widerstand zu organisieren. Im Dezember 1942 sinken die Zahlen der Deportierten. Weil es nicht mehr viele Juden in den besetzten Gebieten gab, wurde es schwieriger, dermaßen viele Menschen in die Lager zu treiben. Die Nazis beschlossen, die übrigen europäischen Juden in Auschwitz-Birkenau zu vernichten.

Der Holocaust als singuläres Ereignis

Die von Wissenschaftlern, Politikern oder Wissenschaftlern häufig wiederholte Behauptung, bei keinem Völkermord des 20. Jahrhunderts seien so viele Menschen so schnell ermordet worden wie in Ruanda im Jahr 1994, ist nach allem nicht haltbar, schreibt Stone. In Ruanda wurden etwa 800.000 Tutsi, 75 Prozent ihres Anteils an der Bevölkerung, binnen 100 Tagen ermordet, also etwa 243.300 pro Monat, stellt er fest. Der Aktion Reinhard fielen jedoch in 100 Tagen 1,47 Millionen zum Opfer, 445.700 pro Monat. Die Mordrate liege also 83 Prozent über der in Ruanda. Dies sei besonders bemerkenswert, da die Tutsi während des Völkermords bereits auf einem relativen kleinen Gebiet konzentriert gewesen seien, während die Juden im Holocaust erst aus entlegenen Gegenden zu den Vernichtungslagern gebracht werden mussten.

Der Holocaust bleibe also nicht nur was die Gesamtzahl seiner Opfer anbetrifft, sondern auch hinsichtlich der Intensität der Vernichtung anders als häufig und unwidersprochen behauptet ein singuläres Ereignis, stellt Stone fest.

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