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Die beiden Preisträger David Julius (l.) und Ardem Patapoutian.

© AFP

Nobelpreis für eine Sinnsuche: Wie zwei Forscher die Sinne des Lebens entschlüsselten

Wie man Hitze, Kälte und mechanische Reize wahrnimmt, war lange ein Rätsel. Die Antwort fanden mehrere Forscher. Zwei gehen nun in die Geschichte ein.

Eigentlich schien der Medizin-Nobelpreis des Jahres 2021 eine klare Sache zu sein: Nach über einem Jahr der Pandemie, nach der triumphalen Leistung der medizinischen Forschung, binnen kaum zwölf Monaten einen Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt zu haben, wetteten viele auf die RNA-Technologie und die Forscherinnen und Forscher, die sie ersonnen haben. Schließlich hatte der Stifter Alfred Nobel verfügt, die „wichtigste wissenschaftliche Errungenschaft des vergangenen Jahres“ zu würdigen. Doch „so arbeitet das Komitee nicht“, sagte der Sekretär der Nobel-Stiftung Thomas Perlmann auf Nachfragen aus dem Veranstaltungspublikum am Montag in Stockholm. Jedes Jahr stünden viele heraussragende Leistungen zur Auswahl. Und so werden nun zwei US-amerikanische Forscher und ihre Arbeiten ausgezeichnet, die wohl nur wenige auf dem Zettel hatten: der in New York geborene David Julius und der gebürtige Beiruter Ardem Patapoutian. Und dennoch hat ihre Arbeit auch etwas mit Covid-19 zu tun.

Denn das Nobelkomitee würdigt mit der Auszeichnung unter anderem die Lösung des Rätsels, wie der Mensch Berührungen wahrnimmt – also das, was sehr viele Menschen während der Pandemie aus Sorge vor Ansteckung tunlichst vermieden und auch schmerzlich vermisst haben, etwa wenn Großeltern und Enkel sich monatelang nicht umarmen konnten.

Doch wie spüren Menschen und andere Tiere überhaupt Berührungen, woher wissen sie auch ohne hinzusehen, dass der Fuß gerade auf den Boden setzt. Wie erfährt das Gehirn zu jedem Zeitpunkt, wo sich die Hand befindet, selbst wenn sie gerade nichts berührt?

Das Rätsel der Sinne, das Mysterium der Wahrnehmung der Umwelt, hat schon viele Gelehrte beschäftigt, etwa René Descartes. In „L’Homme“ spekulierte der französische Philosoph im 17. Jahrhundert, dass von einem Fuß, der in ein Feuer tritt oder etwas berührt, ein Signal ans Gehirn übertragen wird. Tatsächlich wurden später die für verschiedene Reize zuständigen Nervenfasern entdeckt. Die US-amerikanischen Physiologen Joseph Erlanger und Herbert Gasser bekamen dafür 1944 den Medizin-Nobelpreis.

Doch damit waren nur die Überträger des Reizes entdeckt, hingegen noch lange nicht, wie das Signal zustande kommt: Wie also etwa eine Berührung oder ein Schlag, Hitze, Kälte oder Schärfe in einen elektrischen Impuls umgewandelt wird, der bis ins Gehirn über Nervenfasern weitergeleitet und dort verarbeitet wird und dann die nötigen Reaktionen auslöst. Erst um die Jahrtausendwende standen die nötigen zell- und molekularbiologischen Techniken zur Verfügung, um dieses Rätsel zu lösen.

Ardem Patapoutian, geboren in eine Welt voller körperlicher Gewalt in Beirut, aber in den USA aufgewachsen und ausgebildet, machte sich Ende der 1990er am Scripps Forschungsinstitut im kalifornischen La Jolla auf die Suche nach dem Mechanismus, der Berührungen in Nervenimpulse umsetzt. Er nutzte eine Zelllinie, die ursprünglich aus einem Tumor des Nervensystems (Neuroblastom) einer Maus stammt. Diese „Neuro2A“-Zellen reagierten mit einem elektrischen Impuls, sobald Patapouian sie mit einer feinen Pipette anstupste. Seine Idee war: Sobald die Zelle gestupst wird, verzieht sich die Membran der Zelle, wodurch irgendein Kanal in dieser Zellhülle geöffnet wird, so dass Ionen hindurchfließen können. Die Spannungsverhältnisse an der Membran ändern sich und ein elektrischer Impuls wird ausgelöst. Nur welcher Kanal ist das und wie ihm auf die Spur kommen?

Patapoutian durchforstete das Erbgut der Maus nach Genen, die den Bauplan für Ionenkanäle enthielten: Er fand 72, die in den Neuro2A-Zellen aktiv sind. Dann schaltete er jeweils eines nach dem anderen ab, indem er die Übersetzung des Bauplans in Ionenkanäle stoppte. Doch weder der zehnte, noch der zwanzigste und nicht mal der siebzigste Kanal schien der richtige zu sein. Die Zellen reagierten immer noch auf den Stupser. Erst beim 72sten Versuch, als Patapoutian das Gen FAM38A blockierten, blieb der elektrische Impuls aus: Damit hatte er das Molekül gefunden, das den Menschen dazu befähigt, Berührungen wahrzunehmen. Dem griechischen Wort „piesi“ für Druck nach, benannte Patapoutian den Ionenkanal und das Gen „Piezo“ (inzwischen Piezo1, weil bald darauf noch ein zweiter Piezo-Kanal gefunden wurde). Selbst Zellen, die normalerweise nicht auf Berührungsreize reagieren, werden durch Einbau von Piezo-Kanälen zu Mechanosensoren.

Am Max-Delbrück-Zentrum in Berlin Buch forschen Gary Lewin und seine Arbeitsgruppe seit Jahren auf genau diesem Gebiet. „Ardem und ich sind seit Jahren sowohl Kooperationspartner als auch Konkurrenten“, so Lewin gegenüber dem Tagesspiegel. Der Neurobiologe arbeitet seit über 20 Jahren an den Grundlagen des Tastsinns. „Es war der eine unserer fünf Sinne, dessen molekulare Basis längst nicht so aufgearbeitet war wie die der anderen.“

Lewin zählte, falls es auf diesem Gebiet einmal einen Nobelpreis geben würde, zum engsten Kreis der Kandidaten. Er ist nun leer ausgegangen, und ein wenig Enttäuschung darüber kann und will er auch nicht verbergen: „Es ist super, dass unser Forschungsfeld jetzt so belohnt wird, aber es ist eben immer so, dass entscheidende Arbeiten von mehr Leute kommen.“ Und manchmal spielt eben auch „Riesenglück“ eine Rolle. Als das bezeichnet Lewin die Zellkultur, die Patapautian in seinem Labor etablierte und in der er das Kanalprotein fand und untersuchen konnte.

Es ist nicht nur der größte Proteinbrocken mit Funktion, der jemals in Zellmembranen gefunden wurde – 2500 Aminsäurebausteine groß und mit großen, propellerartigen Ausstülpungen versehen, die auf die mechanische Verformung der Zelle reagieren können. Er hat auch evolutionär einen komplett anderen Ursprung als sämtliche andere mit der Sinneswahrnehmungen in Zusammenhang stehende Membranproteine. Und arbeitet sehr direkt. Ähnlich wie eine Hand per Kraftanstrengung eine Tür öffnet, öffnet die mechanische Krafteinwirkung den Kanal, so dass Ionen hindurchfließen können – anders als etwa im Auge, wo die Rezeptormoleküle für Licht erst chemisch verändert werden müssen.

Und während etwa unser optischer Sinn evolutionär bis zu den Bakterien zurückreicht, haben sich mechanische Sinne mehrfach unabhängig voneinander entwickelt. Pflanzen etwa – am bekanntesten und sichtbarsten ist es bei Mimosen – aber auch Bakterien, nutzen komplett andere Moleküle als etwa Fliegen oder Menschen.

Ohne eine bestimmte Pflanze, die Chilischote, wiederum, hätte es wohl noch länger gedauert, bis der Mechanismus entdeckt worden wäre, der Menschen befähigt, Hitze und Kälte wahrnehmen. Denn diese Erkenntnis entstand aus dem Interesse des Physiologen David Julius von der Universität von Kalifornien in San Francisco an dem Scharfmacher Capsaicin. Die höllische Substanz hält Tiere normalerweise davon ab, auch nur von den kleinen roten Früchten zu kosten. Der US-Amerikaner wollte herausfinden, wie Menschen Capsaicin schmecken und warum es Schmerzen und sogar Schweißausbrüche auslöst. Auch Julius benutzte dafür gentechnische Tricks: Er nahm Zellen, die normalerweise nicht auf Capsaicin reagieren, und baute ihnen Gene ein, die in jenen Nervenzellen aktiviert werden, die Capsaicin-sensitiv sind. Nach Dutzenden Versuchen wurde er fündig: Trpv1 ist der Bauplan für einen Ionenkanal, der geöffnet wird und einen Nervenimpuls auslöst, sobald Capsaicin anwesend ist. Fehlt Trpv1, wie es etwa bei Nördlichen Spitzhörnchen vorkommt, bleibt auch der Impuls – und damit auch der Schmerz – aus. Nur haben die Spitzhörnchen davon leider gar nichts – in Natura sie leben weit entfernt von Chili-Plantagen.

Was das mit Hitze- und Kälteempfinden zu tun hat? Als Julius den Kanal genauer untersuchte, stellte er fest, dass sich der Trpv1-Kanal durch die Zellmembran auch dann öffnete, wenn die Zellen höheren Temperaturen, über 40 Grad Celsius, ausgesetzt wurden. Es war der Beginn der Entdeckung einer ganzen Reihe von Kanälen, die auf hohe und niedrige (ab 28 Grad Celsius Hauttemperatur) reagieren, darunter einer, der sowohl auf Kälte als auch Menthol reagiert – daher der erfrischende Effekt von Minze.

Dass die Kanalarbeiten der beiden Forscher irgendwann medizinisch nutzbar sein werden, ist mehr als nur eine Hoffnung. Manche hat sich aber auch schon zerschlagen. Versuche etwa, thermisch aktivierte Kanäle als Ziel der Schmerztherapie zu nutzen, sind bislang weitestgehend gescheitert. Den Scharfmacher Capsaicin selbst hingegen versuchen bereits einige Forschungsgruppen gegen Krebs einzusetzen. In ersten Zellkultur- und Tierexperimenten wirkte die Substanz beispielsweise gegen Tochtergeschwulste bei Lungenkrebs.

Bei den mechanisch aktivierten Kanälen ist die Forschung jünger, aber verspricht vielleicht auch mehr Erfolg. Lewin etwa hat 2017 zusammen mit anderen eine Laborstudie publiziert, in der indirekt der Kanal Piezo-2 angesteuert wird. Davon könnten Patienten mit krankhafter Überempfindlichkeit auf Berührungen, einer schmerzhaften „mechanosensitiven Hypersensitivität“, profitieren. Klinische Studien haben allerdings noch nicht begonnen.

Vielleicht ist es aber auch noch zu früh, über Anwendung zu spekulieren. Denn Julius, Padapoutian, Lewin und andere in diesem Bereich Forschende sind noch immer dabei herauszufinden, in welche essentiellen Funktionen des Körpers Piezo1 und Piezo2 involviert sind. So hat sich etwa herausgestellt, dass ohne Piezo2-Kanäle der Körper nicht die nötigen Signale empfängt, um korrekt zu atmen. Das Gehirn weiß ohne die Signale nicht einzuschätzen, ob die Bronchien genug geweitet sind oder nicht, das Ein- und Ausatmen funktioniert nicht. Mäuse ohne Piezo-2 sterben daher nach der Geburt.

Auch andere Informationen sind überlebenswichtig, etwa der Baroreflex, der den Blutdruck regelt. Er ist sowohl von Piezo1 als auch Piezo2 abhängig, also von Sensoren in den Blutgefäßen, die ununterbrochen Informationen über die Druckverhältnisse in den Gefäßen liefern. Und ja, man ahnt es und so schließt sich auch der Kreis: Auch der Druck in der Blase, der die Dringlichkeit des Toilettengangs anzeigt, ist von den Kanalproteinen abhängig.

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