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Geprüft. Abitur in Coronazeiten in der Sporthalle eines Gymnasiums in Ravensburg. Die rein taktische Wahl von Leistungskursen – um den besten Punkteschnitt zu erreichen – ist eine Sache, die künftig anders werden sollte, sagen Hurrelmann und Dohmen. Foto: Felix Kästle/dpa

© dpa

Nicht mehr zeitgemäß fürs 21. Jahrhundert: Ändert das Abitur – und zwar radikal!

Die Coronakrise zeigt: Das Abitur muss reformiert werden, um im 21. Jahrhundert anzukommen. Das muss jetzt getan werden. Ein Gastbeitrag.

Klaus Hurrelmann ist Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School, University of Governance und Senior Expert am FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie. Dieter Dohmen ist Inhaber und Direktor des FiBS in Berlin.

Mit einem Kraftakt sondergleichen ist es den 16 Bundesländern gelungen, trotz der Corona-Pandemie die Abiturprüfungen durchzuführen. Die Schulschließungen mit wochenlangem Ausfall des regulären Unterrichts machten es schwierig, praktikable Notlösungen zu finden. 

Am Ende hat es irgendwie geklappt, die frischgebackenen Abiturientinnen und Abiturienten können endlich feiern, wenn auch meist nur virtuell. Ihnen und allen Verantwortlichen aus Politik und Schulen kann man erst mal gratulieren.

Die Abiturleistungen sind von Land zu Land ungleich

Erst mal, denn die Glückwünsche bleiben beim erneuten Nachdenken im Halse stecken.

Eines ist nämlich in dieser turbulenten Phase so deutlich wie noch nie zuvor geworden: Das System der Bewertung der Abiturleistungen ist von Bundesland zu Bundesland und teilweise von Schule zu Schule so ungleich, dass die Abschlusszeugnisse auch nicht annähernd vergleichbar sind.

Dennoch eröffnet das Abiturzeugnis einen bundesweit geltenden Rechtsanspruch auf einen Studienplatz. Damit ist eine große Bildungsungerechtigkeit programmiert. 

Die ersten Eltern haben schon Klagen angekündigt

Die ersten Eltern haben schon Klagen angekündigt, und es kann erwartet werden, dass es mit Verweis auf die schwierigen Corona-Prüfungsbedingungen zu zahlreichen Rechtsstreitigkeiten über die Vergleichbarkeit mit früheren oder späteren Abiturjahrgängen kommt. 

Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die mit einer Eins vor dem Komma abschließen, scheint sich in einigen Bundesländern erneut vergrößert zu haben, in anderen nicht. Für die Zulassung zu hoch begehrten Numerus-Clausus-Fächern wie Medizin schafft das ungleiche und unfaire Voraussetzungen.

Der Abi-Modus führt zu ungerechten Resultaten

Die Corona-Krise hat es an den Tag gebracht: Wir brauchen eine radikale Reform der Abitur- und Hochschulzugangsregeln in Deutschland. Der heutige Abi-Modus führt zu ungerechten und nicht vergleichbaren Resultaten, und er wird darüber hinaus auch grundsätzlich den Qualifikationsanforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gerecht.

Das hat im Wesentlichen zwei Gründe.

Erstens: Die Abi-Prüfung heißt „Hochschulreife“, sie schafft eine rechtlich verbindliche Studienberechtigung. Die Regeln für das Erbringen von Leistungen und die Bewertung von Prüfungen sind aber von Bundesland zu Bundesland und teilweise von Schule zu Schule derart unterschiedlich, dass eine wirkliche Vergleichbarkeit nicht gegeben ist. 

Hierdurch wird auf lange Sicht die Glaubwürdigkeit des Bildungssystems und das Vertrauen in seine Leistungsfähigkeit untergraben.

Einseitige Orientierung aufs Studium

Den Hochschulen und beruflichen Ausbildungseinrichtungen gegenüber wird der Eindruck erweckt, durch das erfolgreich absolvierte Abitur sei eine einheitliche und vergleichbare Basisqualifikation der Absolventinnen und Absolventen gesetzt. Das ist aber faktisch nicht der Fall.

Zweitens: Durch die heutige Praxis des Abiturs ist eine einseitige Orientierung auf ein Studium an Fachhochschulen oder Universitäten programmiert.

Dies könnte über kurz oder lang dazu führen, dass ein immer größerer Teil der beruflichen Ausbildung in die Hochschulen verlagert und damit das Konzept der Dualen Berufsausbildung mit seiner Betonung von praktischen und angewandten Qualifikationen demontiert wird.

Das Abitur sollte nicht mehr allein über den Hochschulzugang entscheiden

Daraus ergeben sich zwei Reformvorschläge.

Erstens: In Zukunft sollte das Abitur zu einem Abschluss umgestaltet werden, der eine hohe Qualifikation der Absolventinnen und Absolventen zum Ausdruck bringt, aber kein rechtlich verbindliches Zertifikat für den Hochschulzugang mehr darstellt.

Das Abitur sollte wie bisher Voraussetzung für den Zugang zu anspruchsvollen weiteren Ausbildungswegen sowohl in Hochschulen als auch in anderen Bildungseinrichtungen sein, hierfür aber keine automatische und schon gar nicht eine rechtlich verbindliche Garantie bieten

.

Ob der weitere Ausbildungsweg tatsächlich eingeschlagen werden kann, das sollte vielmehr auch vom Abschneiden bei profilierten Aufnahmeprüfungen der jeweiligen Ausbildungsinstitution – bezogen auf das geplante Ausbildungs- oder Studienfach – abhängig gemacht werden.

Die Leistungspunkte des Abiturs würden zu einem Teil, die Ergebnisse der Aufnahmeprüfung zu einem anderen Teil darüber entscheiden, ob der angestrebte Ausbildungsweg tatsächlich eingeschlagen werden kann.

Keine taktische Wahl von Leistungskursen

Im Unterschied zu heute würde diese Reform dazu führen, dass die Schülerinnen und Schüler während der Gymnasialen Oberstufe solche Fächer in den Vordergrund stellen und für ihre Leistungskurse auswählen, die ihren persönlichen Interessen und Neigungen entsprechen und möglicherweise auch schon mit ihrer später angestrebten beruflichen Orientierung in Verbindung stehen.

Damit entfällt die heute weit verbreitete rein taktische Wahl von Leistungsfächern, nur um einen guten Abschluss möglichst mit einer Eins vor dem Komma zu erhalten.

Der Abischnitt sollte weniger zählen

Wenn der Zugang zu einem Studium oder einer hochwertigen Berufsausbildung sowohl von den Abiturleistungen als auch von der Aufnahmeprüfung abhängig ist, zählt zwar weiter der rein rechnerische Durchschnitt der Abiturnote, aber stärker noch das dahinterstehende Leistungsprofil nach Fächern und Kursen.

Hierdurch würden die Schülerinnen und Schüler in der Gymnasialen Oberstufe ermutigt, ihre eigentlichen Neigungen und Stärken zum Ausdruck zu bringen und in ihre fachlichen Interessen zu investieren.

Eine Fiktion des Abiturs entfällt

Durch diese Reform entfällt auch die Fiktion, das Abitur sei von Schule zu Schule und von Bundesland zu Bundesland vergleichbar. Seine Aussagekraft verschiebt sich auf das durch das Abschlusszeugnis ausgedrückte Qualifikationsprofil eines Absolventen oder einer Absolventin. 

Die Gymnasialen Oberstufen werden hierdurch stimuliert, interessante und aussichtsreiche Programme für die Schülerinnen und Schüler anzubieten und sowohl mit Hochschulen als auch mit beruflichen Bildungsstätten eng zusammenzuarbeiten, um die Übergänge für ihre Absolventinnen und Absolventen so flexibel wie möglich zu gestalten.

Zweitens: In Zukunft sollte das Abitur nicht nur zu einer Voraussetzung für ein akademisches Studium, sondern auch für eine hochwertige berufliche Ausbildung umgestaltet werden.

Die Oberstufen der Stadtteilschulen brauchen mehr Spielraum

Vor allem für die Gymnasialen Oberstufen der Schulform Gymnasium bringt das einen Paradigmenwechsel. Sie sind traditionell nicht auf eine berufliche Ausbildung, sondern nur auf ein Studium ausgerichtet. 

Das ist nicht mehr zeitgemäß, und deshalb wächst in den letzten Jahren auch bereits der Anteil der Abiturientinnen und Abiturienten, die eine Gymnasiale Oberstufe an berufsbildenden Schulen oder an Schulen mit mehreren Bildungswegen wie etwa Sekundarschulen, Stadtteilschulen oder Gesamtschulen besuchen. 

Diesen Schulen sollte in Zukunft ein größerer Spielraum eingeräumt werden als bisher, um ihre Gymnasiale Oberstufe praxis-, lebenswelt- und berufsorientiert umzugestalten. Dazu könnten konkrete Projekte wie etwa Schülerfirmen und Schüler-Start-Ups in informationstechnischen oder kommunikationsorientierten Bereichen gehören.

Keine einseitige Orientierung auf ein herkömmliches Studium

Die einseitige Orientierung des Abiturs auf ein herkömmliches akademisches Studium wird den veränderten Anforderungen beruflicher Qualifikationen in einer Wissensgesellschaft mit starker digitaler Komponente nicht mehr gerecht.

Nicht nur das Abitur, sondern auch Aufnahmeprüfungen sollten künftig an Hochschulen durchgehend über die Studienplatzvergabe entscheiden.
Nicht nur das Abitur, sondern auch Aufnahmeprüfungen sollten künftig an Hochschulen durchgehend über die Studienplatzvergabe entscheiden.

© Uwe Zucchi/dpa

Für Unternehmen mit einer beruflichen Ausbildung sollten Schülerinnen und Schüler mit dem Abitur genauso interessant sein wie für die Hochschulen – und umgekehrt sollten Abiturientinnen und Abiturienten in einer attraktiven beruflichen Ausbildung eine echte Alternative zu einem akademischen Studium sehen.

Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass eine der großen Stärken des deutschen Bildungssystems erhalten bleibt. Die stark anwachsende Attraktivität der Dualen Hochschulen, die eine berufliche Ausbildung mit einem akademischen Studium verbinden, spricht dafür, dass immer mehr Abiturientinnen und Abiturienten die Zeichen der Zeit erkannt haben.

Im Abizeugnis sollten auch außerschulische Kompetenzen vermerkt werden

Im Abiturzeugnis der Zukunft sollten auch die außerhalb der Schule erworbenen Kompetenzen und Fähigkeiten berücksichtigt werden. Den jungen Leuten steht eine Vielzahl von Informations- und Lernangeboten zur Verfügung, insbesondere über das Internet. 

Die hier erworbenen Kompetenzen sollten in eine modernisierte Abiturprüfung als qualifizierte Angaben mit eingehen. Eine solche Erweiterung des Abschlusszeugnisses würde der zunehmenden Vielfalt von Ausbildungs- und Lebenswegen und den sehr unterschiedlichen Anforderungen gerecht.

Die Reformen sind dringend, weil das Abitur immer bedeutender wird. Heute erwerben schon deutlich mehr als die Hälfte aller Absolventen diesen Abschluss. Er ist zum Standard geworden.

Nach Corona: Es wird kommen wie immer in Krisenzeiten

Der Nationale Bildungsbericht hat zwar vor wenigen Tagen dokumentiert, dass der Anteil der Jugendlichen, die das Abitur anstreben, in den letzten Jahren zum ersten Mal überhaupt leicht gesunken ist. Das dürfte aber allein auf die hervorragende Vor-Corona-Konjunktur zurückzuführen sein, die viel Druck von den jungen Leuten genommen hat.

Damit ist es in der schwierigen Zeit nach Corona jetzt eindeutig vorbei. Immer mehr Unternehmen streichen ihre Ausbildungsstellen, die Jugendarbeitslosigkeit steigt bereits an. 

Es wird kommen wie immer in Krisenzeiten: Der Run auf das Abitur als dem anspruchsvollsten und wertvollsten Abschluss des deutschen Schulsystems wird wieder zunehmen. Umso wichtiger, nun endlich zuverlässige und gerechte Regelungen dafür zu beschließen.

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