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Unerträglich. Manchen Patienten tut selbst die Berührung der Bettdecke an den Füßen weh. Sie können deshalb kaum durchschlafen.

© picture alliance / dpa

Neuropathie: Schmerzende Berührung

Berliner Forscher haben einen Mechanismus entdeckt, der den überempfindlichen Tastsinn bei Patienten dämpfen kann.

Für die Betroffenen ist die Erkrankung ein schlimmes Los: Sie können vor Schmerz oft nicht durchschlafen, sogar die Berührung der Bettdecke tut manchen weh. Andere können kaum laufen, ohne ein unerträgliches Brennen an den Füßen zu spüren. Sie alle leiden an einer Schädigung der Nervenendungen, einer Polyneuropathie. Meist ist sie die Folge einer schlecht behandelten Zuckerkrankheit, des Diabetes mellitus. Stoffwechselprodukte haben die Nerven angegriffen und führen dann zu Missempfindungen. Aber auch Patienten mit Multipler Sklerose, Gürtelrose oder einer HIV-Infektion haben manchmal damit zu kämpfen.

Ein zielgerichtetes Medikament gegen das anormale Empfinden gibt es bisher nicht. Der Physiologe Gary Lewin vom Max-Delbrück-Centrum in Berlin will das ändern. Er konnte jetzt im Fachblatt „Nature Neuroscience“ eine Substanz vorstellen, die Schmerzen bei der Berührung lindert. Zunächst nur bei Mäusen, aber Lewin erwartet, dass sie Patienten ebenfalls hilft. Die molekularen Vorgänge in Maus und Mensch seien vergleichbar.

Bei Mäusen wurde der Tastsinn gedämpft

Entdeckt hat sein Team die Substanz bei Studien zum Tastsinn. Druckempfindliche Rezeptoren in der Haut ermöglichen es uns, zum Beispiel ein Streicheln oder eine Hand auf dem Oberarm zu spüren. Sie funktionieren wie ein Ventil, auf Berührung hin öffnen sie sich. Ein Strom geladener Teilchen fließt hindurch und erzeugt ein schwaches elektrisches Signal. Dieses gelangt über die Nerven zum Rückenmark und wird von dort ans Gehirn weitergeleitet. Doch das Ventil wird zusätzlich chemisch reguliert. Eine dieser „Steuersubstanzen“ für Berührung ist das Eiweiß STOML3. Als Lewins Team es in Mäusen blockierte, reagierten sie unempfindlicher auf Berührungen. Dem potentesten Gegenspieler gaben die Forscher das Kürzel „OB-1“.

Als Lewins Team Mäusen OB-1 in die Pfote spritzte, spürten diese weniger. Der Nachweis gelang mit einer neuartigen Methode: Zuvor hatten die Forscher den Tieren beigebracht, dass sie nach jeder Berührung Wasser als Belohnung erwartete. Bald liefen sie sofort zur Tränke, sobald sie berührt wurden. Mit OB-1 im Blut reagierten sie dagegen nicht in dieser Weise. Der gedämpfte Tastsinn half zudem Mäusen, die genetisch bedingt unter einer Polyneuropathie litten. Sie empfanden weniger Schmerzen.

Am liebsten hätte Lewin die Substanz gleich an sich getestet

„Der Stoff unterdrückt den Tastsinn nicht vollständig“, betont Lewin. STOML3 steuere nur etwa die Hälfte der Rezeptoren. Das ist günstig, denn Patienten wollen trotz des Medikaments ja weiterhin spüren, wenn sie beispielsweise ein Hemd zuknöpfen oder zu stolpern drohen. Außerdem wirkt OB-1 nur vorübergehend. „Der Tastsinn ist nach kurzer Zeit wieder völlig normal“, sagt er.

Gern hätte Lewin die Substanz gleich an sich selbst ausprobiert. Aber das wäre zu riskant, da noch nichts über OB-1 bekannt ist. Ob die Substanz der Gesundheit schaden kann, muss sein Team nun in weiteren Experimenten ergründen. Es wird Jahre dauern, bis die Forschung in eine Arznei münden kann. Er sagt: „Wir denken an ein Pflaster oder Creme.“

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