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Vom Rollstuhl zum Rollator. David Mzee, einer der drei Querschnittsgelähmten, die an der Studie teilnahmen.

© EPF Lausanne

Neurochirurgie: Neue Technik zur Behandlung Querschittsgelähmter

Schweizer Ärzte lassen drei Querschnittsgelähmte wieder laufen. Ein Detail bedeutet einen großen Fortschritt im Vergleich zu anderen Neurotechnik-Behandlungen.

Es ist ein Wettlauf. Auch wenn es nicht um schnelles Laufen geht, sondern darum, überhaupt – wieder – laufen zu können. Mehrere aus Medizinern, Ingenieuren und Informatikern zusammengesetzte Arbeitsgruppen versuchen seit Jahren, Querschnittsgelähmten die Fähigkeit zu laufen zumindest ein bisschen zurückzugeben. Sie forschen etwa in Los Angeles, Louisville (Kentucky), Wien oder Lausanne. Eine von ihnen, jene aus der Schweiz, hat sich jetzt mit einer Reihe technologischer und ganz real von Gelähmten getaner Schritte an die Spitze dieser – im Wortsinne – Bewegung gesetzt.

16 Elektroden

Drei Patienten, denen vor Jahren bei Unfällen das Rückenmark durchtrennt worden war und die ihre Beinmuskeln überhaupt nicht mehr oder nur noch minimal bewegen konnten, können nach der Behandlung wieder, einigermaßen, laufen. Sie können es, je nach Grad der Schädigung, unterschiedlich gut – und längst nicht so gut wie vor dem Unfall. Und anders als bei allen bisherigen ähnlichen Versuchen ist bei ihnen nach Monaten des Trainings etwas Besonderes möglich: Selbst, wenn die elektrische Stimulation des Rückenmarks unterhalb der Verletzung abgeschaltet wird, können sie einige ihnen zuvor unmögliche Bewegungen wieder ausführen.

Die Neurochirurgin Jocelyne Bloch, die zusammen mit dem Neurologen Gregoire Courtine und dessen Team von 33 weiteren Forschern, Ärzten und Ingenieuren ihre Ergebnisse jetzt im Fachmagazinen „Nature“ beschreibt, hatte den drei Patienten einen Satz von 16 schnurlos aktivierbarer Stimulations-Elektroden in die Außenhaut des Rückenmarks implantiert. „Präzision war hier extrem wichtig“, sagt Bloch, denn die Elektroden mussten viele einzelne Nerven, die wiederum einzelne, für eine koordinierte Bewegung nötige Muskeln ansteuern, millimetergenau erreichen. Möglich war das mit Hilfe sehr genauer anatomischer Kenntnisse und mit Versuchsstimulationen während der Operation: Bloch legte die Elektrode an einer bestimmten Stelle an und sandte einen Strompuls durch sie hindurch. Wenn der richtige Muskel kontrahierte, nähte sie die Elektrode genau dort ein.

"Nicht so unerwartet"

Nachdem die Wunde verheilt war, nahmen die Patienten ihr Training auf, aufgehängt an Geräten, die ihr Körpergewicht trugen. Elektroden, die streckende Muskeln im Bein ansteuern, wurden dann zuerst aktiviert. Wenn die Schrittbewegung auf diese Weise begonnen hatte, wurden zeitlich genau koordiniert die anderen Muskeln, die für die weiteren Bewegungen von Hüfte, Knie und Fußgelenk nötig waren, über die Elektroden angesteuert. Nach wenigen Wochen konnten die Patienten – auf dem Laufband und weiterhin mit Gewichtsunterstützung und Software-Input – koordiniert und über längere Zeit laufen. Beziehungsweise „Schrittbewegungen ausführen“, wie Courtine sagt: „Wir nennen das lieber noch nicht Laufen, weil es mit dem Laufen eines Gesunden eben doch noch nicht vergleichbar ist.“

Allerdings ließ sich über die Monate auch der Laufstil verbessern. Denn Sensoren und Computerprogramm konnten den gewollten Anfang eines Schrittes registrieren und daraufhin wiederum koordiniert Signale an die Nerven senden.

Gregoire Courtine.
Gregoire Courtine.

© EPFL

„Total unerwartet“, sagt Courtine, oder „ eigentlich dann doch nicht ganz so unerwartet“ – sei gewesen, dass die Probanden auch, wenn der Signalgeber abgeschaltet wurde, nach Wochen und Monaten des Trainings in der Lage waren, Beinmuskeln, die zuvor vollkommen gelähmt gewesen waren, zumindest wieder etwas zu bewegen. „Nicht ganz so unerwartet“ sei dies gewesen, weil seine Arbeitsgruppe Ähnliches bei Versuchstieren bereits beobachtet hatte. An ihnen konnte sein Team auch nachweisen, dass Nervenzellen aufgrund der Stimulation von außen neue Verbindungen eingegangen waren. Bei seinen drei männlichen Probanden vermutet er Vergleichbares. Alle hatten schwere Rückenmarkverletzung, aber Reste von Nervenfasern waren nach wie vor mit dem Körper darunter verbunden. Durch die elektrische Stimulation und das Training seien zwar sicher keine neuen Nervenstränge gewachsen, die verbliebenen seien aber wahrscheinlich neue Verbindungen eingegangen.

Training und Timing

„Das Timing ist der Schlüssel“ sagt Courtine. Die Fortschritte, betont er, basierten auf einem „tiefen Verständnis der neurologischen Mechanismen“, die er und seine Kollegen über Jahre in Tierexperimenten gesammelt hätten: „So sind wir in der Lage, in Echtzeit das Rückenmark genau so zu aktivieren, wie es das Gehirn normalerweise tun würde.“

Jenes „Timing“ scheint aus mehreren Gründen wichtig zu sein. Es erlaubt einerseits Schritte, die besser und natürlicher funktionieren als mit bisherigen Methoden. Sie fühlten sich auch deutlich besser an, sagt David Mzee, einer der Patienten. Denn bei bisherigen Verfahren werden Muskeln viel ungenauer angesteuert. Das führt oft auch zu Verkrampfungen, Blockaden und schneller Ermüdung. Zudem, so beschreibt es ein Teil von Courtines Teams zeitgleich in einem anderen Fachartikel in „Nature Neuroscience“, scheinen die bislang verwendeten kontinuierlich ins Rückenmark abgegebenen Pulse die Rückmeldungen von Nerven aus dem Bein zu hemmen. Das behindert dann eine koordinierte Bewegung sogar. Und dazu kommt, dass die genaue zeitliche Abstimmung der Signale von außen mit denen, die über das Rest-Rückenmark und von den Nervenenden aus den Beinen kommen, jene wenigen noch intakten Nervenverbindungen zum Wachstum anzuregen scheint.

Zukunft Kombi-Therapie

Nikolaus Wenger war selbst mehrere Jahre Mitglied in Courtines Gruppe in Lausanne. „Ich hatte dort das Gefühl, an einem neuen und wichtigen Forschungsschritt mitzuwirken“ sagt der inzwischen an der Charité in Berlin tätige Neurologe. Trotzdem warnt er vor zu hohen Erwartungen: „Die beschriebenen Ergebnisse reichen noch nicht aus, um Patienten alltagsrelevante Verbesserungen wie etwa das Gehen frei von Hilfsmitteln zu ermöglichen.“ Auch der Aufwand des Bewegungstrainings sei bislang sehr groß und „für die Probanden ein Vollzeitjob“. Wenger hofft für die Zukunft auf Kombinationen von Therapien, bei denen zusätzlich etwa auch Medikamente oder regenerative Verfahren eingesetzt werden, um Nervenverbindungen wachsen zu lassen.

Auch Norbert Weidener, Direktor für Paraplegiologie am Uniklinikum Heidelberg, sagt, um herauszufinden, inwieweit diese Ergebnisse bei größeren Patientengruppen eine Verbesserung im Alltag bringen, seien größere Studien nötig.

Tatsächlich haben Courtine und Bloch bereits weitere Patienten behandelt. Und sie bereiten derzeit auch eine größere Studie vor. Doch Leute, die schon länger querschnittsgelähmt sind, sollen an ihr nicht teilnehmen. „Wir zielen auf Patienten ab, bei denen es weniger als vier Wochen her ist“, sagt Courtine. Bei ihnen könne wahrscheinlich mehr Nervengewebe und damit mehr Funktion reaktiviert werden.

Die Ironie hier ist nur schwer zu übersehen: Die Gelähmten, denen in dieser Studie vielleicht geholfen werden kann, laufen derzeit meist noch ganz normal umher. Ihr Unfall wird erst noch passieren.

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