zum Hauptinhalt
Das historische Hauptgebäude der Universität Hannover.

© Holger Hollemann/picture alliance/dpa

Neues Gutachten zu Sexualforscher: Warum die Uni Hannover Helmut Kentler gewähren ließ

Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig legt eine Studie über die Dissertation des berüchtigten Sexualforschers vor, der Berliner Kinder Pädophilen auslieferte.

Viele Jahre lang galt der Diplompsychologe Helmut Kentler (1928 bis 2008), eigentlich Professor für Sozialpädagogik, als ein führender Sexualwissenschaftler in Deutschland. Inzwischen wird mit Abscheu über den Mann geredet, der seit Ende der 1960er Jahre für die Legalisierung von Sex mit Kindern plädiert und dafür gesorgt hatte, dass sozial vernachlässigte Kinder mit der Zustimmung Berliner Jugendämter bei pädophilen Pflegevätern untergebracht wurden.

Doch schon Kentlers Doktorarbeit von1975 erfüllte bei Weitem nicht die üblichen Standards. Das beschreibt die Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig vom Göttinger Institut für Demokratieforschung in einer umfassenden Studie, in der sie Kentlers Dissertation untersuchte und auch der Frage nachging, weshalb der Psychologe seine abstrusen Theorien so lange unhinterfragt verbreiten konnte. Die Studie wurde vom niedersächsischen Wissenschaftsministerium gefördert. Im Dezember 2016 hatte Nentwig bereits ein vom Berliner Senat in Auftrag gegebenes erstes Gutachten über das "Kentler Experiment" vorgelegt.

Kentler ließ sich bei Doktorarbeit von befragten Eltern helfen

Kentlers Doktorarbeit trägt den Titel „Eltern lernen Sexualerziehung“ und hat, wie Nentwig schreibt, „zweifellos ein Qualitätsproblem“. Basis seiner Arbeit waren Gespräche mit Eltern über die Sorgen und Nöte ihrer Kinder. Kentler erstellte ein Manuskript und überließ es dann den Eltern zur Bearbeitung. Kentler selber beschrieb die Arbeitsweise Nentwig zufolge so: „Ich entwarf jeweils ein Kapitel, das vervielfältigt wurde, damit es von den Eltern in Ruhe durchgearbeitet und korrigiert werden konnte. Bei einzelnen Kapiteln ist der endgültige Text erst nach fünfmaliger Umarbeitung entstanden.“

Im Hauptteil fehlen, bis auf wenige Ausnahmen, Literaturhinweise. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis existiert nicht. „Kentler belegt zahlreiche Aussagen nicht“, schreibt Nentwig, er habe sogar manipuliert. Beispielsweise zitierte er aus dem Tagebuch des Leibarztes am französischen Königshof über die angebliche sexuelle Entwicklung Ludwigs XIII., geboren 1601. „Aus ihm geht hervor, wie unbefangen die Kinder damals sexuellen Gegebenheiten begegneten“, zitiert Nentwig aus Kentlers Arbeit. Ludwig XIII. war noch nicht mal ein Jahr alt, als er laut Kentler „aus voller Kehle lachte, wenn man mit seinem Penis spielte“. Nichts davon stimmte. Nach Nentwigs Recherchen beschrieb der Leibarzt in Wirklichkeit abartige sexuelle Spiele, die sich Erwachsene mit dem Baby erlaubten. Dass Ludwig mit zwei Jahren zu stottern begann und Wutausbrüche hatte, erwähnte Kentler mit keinem Wort.

Doktorväter störten sich nicht an Schwächen der Arbeit

Dennoch wurde er promoviert. Sowohl sein Doktorvater als auch der Zweitkorrektor Klaus Mollenhauer störten sich nicht an den Schwächen des Werks. Mollenhauer schreibt in seinem Gutachten zwar, dass „der übliche Apparat von Nachweisen fehlt“. Aber er führt diesen Mangel auf die von Kentler „gewählte Darstellungsform“ zurück und sieht „dessen Fähigkeit, wissenschaftlich zu arbeiten, durch vorangehende Publikationen belegt“.

Dank der Dissertation kann Kentler 1976 auf den vakanten Lehrstuhl für Sozialpädagogik in Hannover berufen werden. Dort kümmert er sich intensiv um die Sexualwissenschaft – als „Hobby“, wie er es nannte. Kentler, der sich Ende der 60er Jahre als homosexuell geoutet hatte, setzte sich öffentlich immer wieder für einen liberalen Umgang mit Homosexualität ein.

Doch zuvor war bereits sein berüchtigtes „Kentler-Experiment“ in Berlin angelaufen, das erst 2015 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und Fassungslosigkeit auslöste. Ende der 60er Jahre hatte Kentler, damals Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum Berlin, dafür gesorgt, dass mit staatlicher Zustimmung Straßenkinder bei pädophilen und pädosexuellen Männer als Pflegekinder untergebracht wurden. Dass diese Männer die Kinder nur aufnahmen, weil sie mit ihnen Sex haben wollten, war Kentler nach eigener Aussage klar. In seinem 1979 veröffentlichten Buch „Sexualität. Materialien zur Sexualforschung“ schrieb er, dass „trotz zahlreicher Untersuchungen bisher nie die erwarteten schädlichen Folgen bei Kindern und Jugendlichen festzustellen waren“.

Die Uni Hannover ignorierte Gegenpositionen

Nach Kentlers Ansicht könnten intime Beziehungen zu einem Erwachsenen eine Möglichkeit der Therapie für die Kinder und Jugendlichen sein. Später behauptete er: „In allen Fällen sind diese Jungen heute fähig, ihren Lebensunterhalt selbstständig zu verdienen, und kein einziger von ihnen ist homosexuell geworden.“ Tatsächlich aber gilt es als unstrittig, dass zumindest einige der Kinder schwere psychische Schäden erlitten haben.

Erst Anfang der 1990er Jahre kam starke Kritik an Kentler und seinen Thesen auf. Vor allem die feministische Zeitschrift „Emma“ griff ihn immer wieder an. Als Kentler in Hannover einen Vortrag zum Thema „Missbrauch des sexuellen Missbrauchs“ halten sollte, schlug ihn ein Student mit den Worten „Du Schwein, du Sau, du Kinderficker“. Die Uni Hannover stellte sich damals hinter Kentler.

Nentwig nennt drei Gründe, aus denen sich die Universität damals nicht mit der Kritik an Kentlers „pädosexuellenfreundlichen Äußerungen befasste“. Erstens habe man das Recht aufseiten des eigenen Kollegen gesehen „und setzte sich deshalb nicht mit den Gegenpositionen auseinander“. Zweitens habe die Art der Kritik – körperliche Gewalt und Verweigerung einer Debatte mit Kentler – abgeschreckt. Und drittens hätten die Professoren schlicht nicht die Bedeutung der Kritik begriffen. „Zu sehr war man im Elfenbeinturm der Wissenschaft gefangen“, schreibt Nentwig.

Lobende Wort zum Abschied 1996

Ihr Fazit: „Aus heutiger Sicht wäre es wünschenswert gewesen, wenn damals an der Universität Hannover eine Diskussion über Kentlers Argumente für die Entkriminalisierung sexueller Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen stattgefunden hätte.“

Stattdessen fand etwas anderes statt: Als Kentler 1996 an der Universität verabschiedet wurden, gab es viele lobende Worte. 20 Jahre später erklärte die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD): „Es ist ganz deutlich, dass hier ein Verbrechen in staatlicher Verantwortung stattgefunden hat.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false