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Freier Zugang. Die beeindruckende offene Treppe, die in den Forschungslesesaal der Staatsbibliothek Unter den Linden führt, trägt auch Geräusche nach oben.

© Mike Wolff

Neuer Stabi-Lesesaal im Test: Schöner arbeiten in der Apfelsinenkiste

Schicke Sessel, schnelle Scanner, aber wenig ruhige Ecken: Wir haben getestet, wie es sich im neuen Forschungslesesaal der Staatsbibliothek zu Berlin arbeitet.

Orange ist die Farbe der Saison. Wer im neuen Lesesaal der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden glücklich werden will, sollte sich dauerhaft damit anfreunden. Mit seinem orangen Teppichboden, Sitzbezügen, Arbeitsflächen und Regalen in braun-orangen Holztönen wirkt er wie eine riesige Apfelsinenkiste. Wer eine farbharmonische Arbeitsumgebung schätzt, sollte nicht im pinken Pulli kommen. Aber ist nicht der Klischeeprofessor sowieso im braunen Cordsakko unterwegs?

Leihweise. Das Kerngeschäft einer wissenschaftlichen Bibliothek klappt bereits reibungslos.
Leihweise. Das Kerngeschäft einer wissenschaftlichen Bibliothek klappt bereits reibungslos.

©  Mike Wolff

Die ersten Nutzer seit der Eröffnung am 21. März jedenfalls haben den Lesesaal in Besitz genommen. Mit Laptop, Notizheft, Aufsatzkopien und Bücherstapeln markieren sie ihre Reviere. Die einzelnen Arbeitsplätze sind riesig, bieten ausreichend Platz, um sich auszubreiten. In die Holztische sind an jedem Platz gummierte Flächen eingelassen, so dass es sich fast anfühlt, als säße man am privaten Schreibtisch. Steckdosen und Laptopschloss sind inzwischen Standard – und hier sehr gut zu handhaben. Wer sich an den klobigen Lampen auf den Tischen der Konkurrenz-Stabi am Potsdamer Platz öfters mal den Kopf gestoßen hat, kann sich über einen schwenkbaren Leuchtarm freuen, der sich mit spiegelnden Bildschirmen gut verträgt. Gemütliches Licht geht allerdings anders.

Der Hit sind jedoch die Stühle: weich gepolsterte Freischwinger-Sessel, in denen sich auch ein Fernsehabend bestreiten ließe. Aber ist der 50er-Jahre-Look vielleicht ein bisschen retro? Und was wohl die Lendenwirbelsäule dazu sagt? Egal, Hauptsache bequem!

Angenehm ist auch die Temperatur im Saal. Es zieht nicht, kaum jemand trägt den in vielen Bibliotheken obligatorischen Wollschal um die Schultern. Der flauschige Teppich hält die Füße warm. Der Geräuschpegel ist Geschmackssache. Es handelt sich nun mal um eine große Halle von gut dreißig Meter in Länge, Breite Höhe, die zudem einen offenen Aufgang hat. Rücksichtsvoll, aber doch hörbar wird am Informationspult im Raum verhandelt. Und anfangs tröpfeln immer wieder Schaulustige in den Saal, denen ein begeistertes „Aaah!“ entweicht. Viele der Erstbesucher streifen neugierig durch den Raum und erkunden die Seitengänge des Würfelbaus von Architekt HG Merz. Im Freihandmagazin stehen die 130 000 Bücher wie mit dem Lineal abgemessen, kein Staubkörnchen ist zu sehen, nur einige Beschilderungen an den Frontseiten der Bücherregale fehlen noch. Oben auf der Balustrade werden flüsternd Eindrücke ausgetauscht.

Insgesamt herrscht eine konzentrierte Atmosphäre im neuen Lesesaal. Doch wer sich absolute Stille wünscht, ist in einem Eckchen der verwinkelten Stabi West besser aufgehoben.

Überhaupt, die andere Stabi! Berlins scientific community ist gespalten: „Mein Herz hat der Saal nicht gewonnen“, sagt ein Mann, der extra zum Probearbeiten gekommen ist. Zu monumental, „zu sehr klare Kante“ sei ihm die eckige Würfeloptik im Vergleich zum weichen Terrassenbau des Scharoun-Gebäudes in der Potsdamer Straße. Eine Doktorandin sieht das anders: Die Treppe, die zum Lesesaal heraufführt – „da merkt man richtig, dass das hier eine Staatsbibliothek ist“, sagte sie. Ihr gefällt die Höhe nach oben, das luftige Gefühl. Und eines muss dann selbst der nostalgische Skeptiker zugeben: Die Buchscanner im neuen Haus sind state of the art.

"Keine Kugelschreiber im Lesesaal" - das Verbot wird unterlaufen

Da der klassische Kopierer vielen Büchern den Rücken gebrochen hat, haben seit einigen Jahren in vielen Bibliotheken solche Scanner Einzug gehalten. Das Gerät scannt von oben die aufgeschlagenen Seiten ein, formatiert sie automatisch auf DIN-A4-Größe und speichert sie auf dem mitgebrachten USB-Stick als PDF-Dokument. In der Philologischen Bibliothek der Freien Universität und im Grimm-Zentrum der Humboldt-Uni laufen die Scanner nun schon ein paar Jahre, mit Technik und Design des neuen Stabi-Modells halten sie nicht mehr mit. Eleganter ward nie kopiert als auf diesen Geräten mit verglastem Touchpad. Wer möchte, kann seine Scans im hauseigenen Copyshop ausdrucken, allerdings lagert auf den Festplatten der meisten Laptops längst eine eigene kleine PDF-Bibliothek.

Dass das digitale Archiv die wissenschaftliche Handarbeit nicht ersetzt, bezeugen die neben den Laptops verstreuten Notizhefte und Stifte. Beim Passieren der Sicherheitsschleuse per Chipkarte fällt allerdings so mancher irritierte Blick auf einen großformatigen Info-Zettel: Laut Hausordnung sind „weder Kugel- oder Filzschreiber noch Füllfederhalter oder Marker mit in den Lesesaal zu nehmen“ – zum Schutz der wertvollen Bestände, wie es heißt. Auch „Klebezettel oder gar Schere, Klebstoff und Handcremes“ sind verboten. Das klingt, als seien Wissenschaftler besonders bastelwütig. Ein schweifender Blick zeigt, dass sich die forschende Zunft über die diversen Verbote souverän hinwegsetzt. Der Geistesblitz wird mit dem Kuli notiert, hier und da ein Haftzettelchen geklebt. Offiziell erlauben will die Bibliotheksleitung demnächst das Wassertrinken im Lesesaal. Nutzer hätten sie überzeugt, dass ein Trinkverbot nicht mehr zeitgemäß sei, sagt Generaldirektorin Barbara Schneider-Kempf.

Damit das neue Forscherbiotop der Stadt so richtig wohnlich wird, fehlt eigentlich nur noch die Cafeteria. Doch die kommt erst 2016, wenn die Generalsanierung der Staatsbibliothek Unter den Linden abgeschlossen ist. Bis dahin rinnt für 50 Cent pro Becher ein koffeinhaltiges Heißgetränk aus dem Automaten, im provisorischen Foyer kann er an Tischen eingenommen werden. Provisorisch ist der ganze in grellem Hellgrün gehaltene Eingangsbereich, hinter dessen dünnen Wänden die Großbaustelle liegt.

Doch das Kerngeschäft der wissenschaftlichen Bibliothek funktioniert schon an den ersten Tagen reibungslos. Die Buchbestellung und -ausgabe läuft routiniert und wird meist von einem freundlichen Lächeln begleitet. „Mit der Eröffnung haben wir von Moll auf Dur geschaltet“, sagt Schneider-Kempf.

Der finanzielle Aufwand, mit dem man Stararchitekten Lesesäle entwerfen lässt, die Begeisterung, mit der man sie dann publikumswirksam eröffnet, ist beredtes Zeichen dafür, dass die bloße Quantität des Buchbestandes – hier immerhin über elf Millionen Bände – heute nur noch die halbe Miete ist. Bibliotheken sind moderne Büchertempel, in denen die Wissensgesellschaft sich selbst inszeniert, in denen gelernt und gedacht, produziert und diskutiert wird, in denen analoge und digitale Medien verschmelzen. An diese Bedürfnisse muss sich eine Bibliothek anschmiegen, sie muss ein Ort sein, an dem man nicht nur Arbeits-, sondern auch Lebenszeit verbringen möchte.

Im Lesesaal kehrt langsam Ruhe ein, der Ansturm der Neugierigen ebbt nach ein paar Tagen ab. Die Mixtur aus leisem Tippen und Kritzeln erzeugt eine arbeitsame Atmosphäre. Die Überlastung des Grimm-Zentrums um die Ecke hätte vermuten lassen, dass es Ausweichbewegungen gibt, doch wieder einmal zeigt sich: Jede Bibliothek hat ihre eigene Klientel. Zwar kann sich jeder einen Stabi-Ausweis zulegen, dennoch ergibt sich automatisch eine Aufteilung. In den Unibibliotheken sammeln sich die umtriebigen Bachelor-Studierenden, in der Staatsbibliothek die eher bourgeoisen Routine-Forscher – und die, die es werden wollen.

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