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Kinder sitzen in einer Bibliothek und lesen in Bilderbüchern.

© picture alliance /dpa/Arne Dedert

Update

Neue Iglu-Studie: Deutsche Grundschüler fallen beim Lesen international zurück

Beim Lesen stagnieren die Leistungen der Grundschüler. In der Rangliste von Iglu 2016 sackt Deutschland ab - weil andere Länder sich verbessert haben.

Die Leseleistungen von Viertklässlern in Deutschland stagnieren. Zwar haben sich die Kompetenzen der neun- bis zehnjährigen Mädchen und Jungen im Verstehen von Texten seit 2001 im internationalen Vergleich nicht verschlechtert. Aber anders als in vielen anderen Ländern ist es den deutschen Grundschulen nicht gelungen, bessere und motiviertere Leserinnen und Leser als vor 15 Jahren zu produzieren. Das geht aus der neuen Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) hervor, die am heutigen Dienstag in Berlin präsentiert wird.

Deutschland ist wegen der hierzulande ausbleibenden Leistungsfortschritte aus dem oberen Drittel der weltweiten Rangliste ins untere Mittelfeld abgerutscht. Der Leistungsrückstand auf das international führende Russland beträgt ein Schuljahr. In Deutschland wurden für Iglu 2016 im vergangenen Jahr rund 4000 Schülerinnen und Schüler aus 200 Grundschulen getestet. Iglu 2016 ist die vierte Grundschul-Lese-Studie seit 2001.

Deutsche Viertklässler lesen so gut wie Schüler in Kasachstan

Weltweit nahmen 11.000 Schüler aus 61 Ländern teil. Sie mussten kurze literarische Geschichten sowie Sachtexte lesen und dazu Fragen beantworten (das Design und die vollständigen Ergebnisse von Iglu 2016 finden Sie hier).

Die Diagnose der deutschen Iglu-Forscher um Wilfried Bos von der Uni Dortmund fällt ernüchternd aus: „In 20 Staaten erzielen Schülerinnen und Schüler signifikant bessere Leseleistungen als vergleichbare Grundschulkinder in Deutschland.“ Mit einem Leistungsmittelwert von 537 Punkten liegt Deutschland knapp unter dem Mittelwert der OECD-Länder (541 Punkte) und dem der EU (540), aber immerhin deutlich über dem internationalen Mittelwert der 61 Teilnehmerstaaten, der bei 521 Punkten liegt. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Susanne Eisenmann (CDU), sagte bei der Präsentation in Berlin: "Stagnation ist Rückschritt."

Viertklässler in Deutschland können damit in etwa so gut lesen wie ihre Altersgenossen in Österreich und in der Slowakei – und in Kasachstan. Zu den für das deutsche Schulwesen bitteren Lehren aus Iglu gehört auch diese: Im Vergleich der Europäischen Union schneiden mehr als die Hälfte der Länder besser ab als Deutschland. 2001 waren es nur vier. Hinter den international stärksten Lese-Bastionen – neben der Russischen Föderation sind das Singapur und Hongkong – führen EU-weit Irland mit einem Mittelwert von 567 Punkten und Finnland mit 566 Punkten. Deutschlands Nachbarstaat Polen gehört mit 565 Punkten ebenso in die Spitzengruppe wie das punktgleiche Nordirland.

Elf Länder verbessern sich, Deutschland tritt auf der Stelle

Zu den EU-Staaten und Regionen, die besser abschneiden als Deutschland, gehören ferner England, Lettland, Schweden, Ungarn, Bulgarien, Litauen, Italien, Dänemark und die Niederlande. Unter den Ländern mit schlechteren Leistungen sind Portugal und Spanien (je 528 Punkte), Belgien und Frankreich. International stehen Iran, Oman und Marokko am Ende der Rangliste (428 bis 358 Punkte).

Elf Testgebiete können gegenüber der ersten Iglu-Studie von 2001 „positive Leistungstrends“ verzeichnen, darunter Russland mit einem Plus von 53 Punkten, Singapur (+48), Slowenien (+41) und die Slowakei (+17). Deutschland dagegen verlor zwei von den 2001 erzielten 539 Punkten – was einer Stagnation entspricht.

Nur elf Prozent gehören hierzulande zu den besten Lesern

Wo genau hapert es in Deutschland? Unter anderem gehört es zu den wenigen Ländern mit einer sehr großen Spannbreite der Leistungen. Die Differenz zwischen den fünf Prozent leistungsstärkten und -schwächsten Kindern beträgt 257 Punkte und ist EU-weit nur in Malta signifikant größer. Als ideal gilt ein hohes Niveau mit geringer Streuung, doch in Deutschland ist diese Leistungsheterogenität gewachsen. Die höchste Kompetenzstufe fünf erreichen elf Prozent der Schüler – immerhin zwei Prozent mehr als 2001.

In Ländern wie Finnland, Irland und Polen gibt es aber annähernd 20 Prozent oder mehr sehr gute Leser. Die mittlere Kompetenzstufe drei schaffen hierzulande 19 Prozent nicht – fast vier Prozent mehr als 2011. Ihnen drohen in der weiterführenden Schule „erhebliche Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern“. Schlechter als Deutschland sieht es EU-weit hierbei nur für Frankreich, das französischsprachige Belgien und Malta aus.

Sachtexte? Eher eine Hürde für deutsche Schüler

Besonders schwer tun sich Viertklässler in Deutschland mit Sachtexten, wo im Schnitt 533 Punkt erreicht wurden, etwas besser sieht es bei literarischen Texten aus (542 Punkte). Hier zeigen sich auch deutliche Geschlechtsunterschiede: Beim literarischen Lesen liegen die Mädchen um 18 Punkte vor den Jungen, bei Informationstexten sind es nur fünf Punkte. Um fünf Prozent nachgelassen hat der Anteil der deutschen Schüler, die täglich oder fast täglich zum Vergnügen lesen. Bei den Leseschwachen sind es zehn Prozent.

Woran liegt es nun, dass Viertklässler in Deutschland beim Lesen auf der Stelle treten? Dass es besser geht, hatte die 2006 getestete Kohorte gezeigt, die ein Zwischenhoch von 548 Punkten erreichte. Damit lag Deutschland im oberen Viertel der 45 Teilnehmerstaaten.

Beide Eltern im Ausland geboren – ein Schuljahr hinterher

Als maßgebliche Erklärung für die heute im Vergleich nur noch mittelmäßigen Leseleistungen sehen die deutschen Iglu-Forscher, dass es Deutschland seit 2001 nicht gelungen sei, in der Grundschule „den Anspruch auf Chancengleichheit im Bildungssystem zu realisieren“. Dabei geht es vor allem um „zuwanderungsbedingte Disparitäten“. Kinder, bei denen beide Eltern im Ausland geboren sind, liegen 49 Leistungspunkte und damit gut ein Schuljahr hinter dem Durchschnitt. Gegenüber 2001 sei die Heterogenität der Klassen aber auch größer geworden – durch verstärkte Zuwanderung und Inklusion.

Zu den Empfehlungen der Bildungsforscher gehören ein kognitiv anregenderer Leseunterricht sowie die gezielte Förderung sowohl lesestarker als auch leseschwacher Schülerinnen und Schüler. Zudem solle die Elternarbeit ausgebaut und das Angebot an Ganztagsgrundschulen verstärkt werden.

Die Reaktionen auf die Ergebnisse fielen teilweise scharf aus. Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, nannte es "das Peinlichste an unserem Bildungssystem", dass die Herkunft der Kinder maßgeblich über ihren Bildungserfolg entscheidet. Nach jeder neuen Studie werde Besserung gelobt, "passiert ist sehr, sehr wenig", kritisiert Zimmermann.

Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Uni Köln, warnt davor, die Debatte allein auf migrationspolitische Differenzen zu lenken. "Der Faktor Migration allein kann nicht die Leistungsunterschiede erklären", teilte Becker-Mrotzek mit. Die Autoren der Iglu-Studie stellten die richtigen Forderungen. Sprachliche Bildung müsse "Bestandteil aller Unterrichtsfächer sein, nicht nur des Deutschunterrichts". Die Bildungsgewerkschaft GEW fordert ein neues Ganztagsschul-Programm.

Einen Gastbeitrag von Iglu-Forscherin Renate Valtin zu deutschen Defiziten in der Leseförderung lesen Sie hier.

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