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Blick in die Ausstellung "Flechtwerk der Dinge" mit Ausstellungsvitrine.

© Felix Sattler/HU Berlin.

Neue Ausstellung zu Sammlungen der HU: Die Wunderkammer des 21. Jahrhunderts öffnet sich per App

Die Humboldt-Uni erschließt ihre historischen Sammlungen mit einer digital vernetzten Dauerausstellung. Eine Konkurrenz zum eigenen "Labor" im Humboldt-Forum?

Was haben ein mittelalterliches Hufeisen, eine Videokamera von Fisher Price, eine menschliche Hand, ein Schaukasten über Seidenraupen und ein Funkeninduktor gemeinsam? Erst mal nicht viel, außer dass sich all diese Objekte im Besitz der Humboldt-Universität (HU) befinden und ab Dienstag in einer Art Wunderkammer im Tieranatomischen Theater (TA T) zu sehen sind. Die neue Dauerausstellung „Flechtwerk der Dinge“, die nach dem Setzkastenprinzip funktioniert, befindet sich im ältesten Lehrgebäude Berlins, gebaut 1789/90 von Carl Gotthard Langhans, der auch das Brandenburger Tor entwarf.

In den Mittelpunkt haben die Kuratoren das gestellt, was die Universität in den letzten Jahrhunderten zu Forschungszwecken zusammengetragen hat. Das ist ziemlich viel: Über 40 Sammlungen existieren an der HU, von Anatomie- und Archäologiesammlungen über Herbarien, Messgerätesammlungen, Briefarchiven bis zum Lautarchiv, einer Sammlung von Schellackplatten, Wachswalzen und Tonbändern.

Doch Moment, ist das Lautarchiv nicht die Sammlung, die gerade ins Humboldt-Forum umzieht und dort, neben anderen Objekten, in der ersten Etage in einen in Kürze eröffnende universitären Wissensraum – das sogenannte Humboldt-Labor – integriert wird? Macht sich die Uni mit zwei Standorten, die beide aus den hauseigenen Sammlungen schöpfen, damit nicht selbst Konkurrenz? Zumal hinter beiden Ausstellungen Teams des Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik stecken.

Felix Sattler, der das sogenannte „Sammlungsschaufenster“ im TAT zusammen mit Sarah Becker und Jessica Korp kuratiert hat, hält die Gefahr der inhaltlichen Überschneidung dennoch für sehr gering: „Der Ansatz ist komplementär, wir machen uns garantiert keine Konkurrenz.“ Während es im Humboldt-Labor um Grundlagenforschung in den Exzellenzclustern und neueste Perspektiven der Wissenschaft auf drängende Fragen der Gegenwart geht und einzelne Objekte wohl eher illustrierend eingesetzt werden, steht im Tieranatomischen Theater die Praxis des Sammelns im Vordergrund.

Der Lavastein aus Westsyrien stammt von "Abu Djihad"

Welchen Zweck haben universitäre Sammlungen überhaupt? Wer nutzt sie? Wer prägt sie? Wie überstehen sie wechselhafte politische und wissenschaftliche Zeiten? Vier Schränke mit 80 Fächern umfasst die Ausstellung, die das beispielhaft beantworten will, alles übersichtlich in einem Raum seitlich des berühmten Hörsaals angeordnet.

Sattler und sein Team hatten mit 100.000 Euro einen vergleichsweise schmalen Etat. Zum Vergleich: das Humboldt-Labor hat ein Millionenbetrag zur Verfügung. Die Kuratoren haben dafür in den letzten Monaten Dutzende HU-Institute besucht und nach aussagekräftigen Objekten gesucht. Manche sind Hingucker, vor allem die Präparate, die aus der Sammlung am Centrum für Anatomie stammen. Rot verästelt leuchten die dreidimensionalen Gefäße einer linken Hand, die modellhaft Erkenntnisse über die innere Beschaffenheit von Händen vermittelt. „Wir haben lange diskutiert, ob wir das ausstellen sollen“, sagt Sattler. Die Herkunft sensibler Objekte muss vorab geklärt und reflektiert werden.

Ein anatomisches Präparat der Blutgefäße in einer menschlichen Hand.
Verästelt. Dieses Präparat zeigt Gefäße der linken Hand - ein Hingucker der Ausstellung.

©  Charité, Centrum für Anatomie, Anatomische Lehrsammlung/Felix Sattler

Das gilt auch für vermeintlich Unscheinbares: Wie den Lava-Stein aus Westsyrien, den der Diplomat und Archäologe Max von Oppenheim 1894 in seine Sammlung aufnahm. Interessant wird der Stein erst, wenn man sich näher mit dem Sammler beschäftigt. Denn Oppenheim, überzeugter Nationalist, engagierte sich für den „heiligen Krieg“ der arabischen Gemeinschaften. Für ihn war das ein probates Mittel zur Bekämpfung der mit dem Deutschen Reich verfeindeten Kolonialmächte. Sein Spitzname lautete, man glaubt es kaum, „Abu Djihad“, Vater des Djihad.

Die ersten "Réfugiés" waren die Hugenotten

All das erfährt der Besucher nicht anhand von Infotafeln. Die Objekte stehen völlig kommentarlos in den drei Meter hohen Bibliotheksschränken von 1790, die noch zur Originalausstattung des TAT gehören. Erläuterungen erhalten Besucher nur über ihre Smartphones oder über ein Tablet, das vor Ort ausgeliehen werden kann. Das funktioniert erst mal ähnlich wie ein Audioguide: Zu jedem Ausstellungsstück lassen sich Texte aufrufen. Darüber hinaus haben Sattler und seine Kolleginnen digitale Touren durch das Kabinett konzipiert.

Der Stein des Abu Djihad: Syrische Lava von Max von Oppenheim, 1894.
Der Stein des Abu Djihad: Syrische Lava von Max von Oppenheim, 1894.

© Geomorphologisch-Geologische Sammlung / Dr. Mohsen Makki; Foto: Felix Sattler

Sattler nennt das „transversales Kuratieren“: Dabei werden zwischen den Objekten immer neue Fäden gespannt. In der Ausstellung wird das mit Lichteffekten untermalt. Wenn sich Zuschauer für einen der vielen Oberbegriffe („Erinnern“, „Gebrauch“, „Herkunft“, „Verlust“, „Herstellen“ oder ähnliches) interessieren, leuchten die entsprechenden Schrankfächer mit den Objekten auf. So werden inhaltliche oder methodische Parallelen deutlich, die sich auf den ersten Blick nicht erschließen.

[ „Flechtwerk der Dinge“ im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin, Campus Nord, Philippstr.12/13, Haus 3, 10115 Berlin-Mitte, Dienstag bis Samstag 14-18 Uhr, Eintritt frei. Mehr unter: www.tieranatomisches-theater.de]

Mit dem Stichwort „Migration“ etwa haben viele Ausstellungsstücke etwas gemeinsam: Eiszeitliche Gletscher haben Gestein aus Skandinavien nach Brandenburg transportiert, das zeigt ein Steinchen aus der Geomorphologisch-Geologischen Sammlung. Die ersten so bezeichneten „Réfugiés“, flüchtende Hugenotten aus Frankreich, brachten nicht nur dieses neue Wort, sondern auch neue Nutztiere – die erwähnte Seidenraupe – mit. Volkskundliche Fragebögen aus den 1930ern erfassten typische Kinderspiele in Berlin und dokumentierten nebenbei regionale Migration und Verstädterung im frühen 20. Jahrhundert.

Jetzt muss das Humboldt-Labor nachziehen

Dem Ausstellungsteam gelingt mit diesen Querverbindungen ein ebenso kritischer wie spielerischer Vermittlungsansatz. Und das letztlich mit einfachen Mitteln: ein Metathema, parallel geschaltete LED-Lampen und kurze Erläuterungen zu Objekt und Sammlungsgeschichte. Da die Ausstellungsstücke regelmäßig ausgetauscht und die Digitaltouren laufend überarbeitet werden, bleibt die Dauerausstellung „dynamisch“, wie Sattler betont.

In Kombination mit den wechselnden Sonderausstellungen – die nächste, „AugenWerk – Ørenslyd“, widmet sich der Zerlegung von Licht und Klängen und eröffnet am Donnerstag – sowie regelmäßigen Konzerten und Vorträgen im restaurierten Hörsaal hat das Team des Tieranatomischen Theaters einen kleinen, aber durchaus feinen musealen Ort geschaffen. Jetzt müssen die Kollegen vom großen Humboldt-Labor nur nachlegen.

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