zum Hauptinhalt
Nazi-Forscher

© Ullstein

Nationalsozialismus: Im Dienst des „Dritten Reichs“

Nach 1945 versuchten viele Forscher ihre eigene Verantwortung vergessen zu machen. Wie deutsche Wissenschaftsmanager von den Nazis profitierten.

Nach 1945 sprachen Wissenschaftler vom „Dritten Reich“ als einer „Zeit, die wie eine ungeheure Flutwelle über uns hinwegging“. Man habe jedoch „Stromschnellen und Wirbel vermieden“ und sich unpolitisch gehalten. So Otmar Freiherr von Verschuer – ausgerechnet jener Verschuer, der als Doktorvater des Auschwitz-Arztes Josef Mengele zu fataler Berühmtheit gelangte und 1942 zum Direktor des renommierten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik ernannt worden war. Mit ähnlichen Rhetoriken versuchten viele Forscher nach 1945 ihre eigene Verantwortung vergessen zu machen. Sie haben unser Bild von den Wissenschaften unter der nationalsozialistischen Herrschaft bis in die jüngste Zeit geprägt. Die Forschung, so die Suggestion, sei ab 1933 verbrecherisch, mithin pseudowissenschaftlich gewesen.

Tatsächlich waren die Verhältnisse komplexer. Neben den barbarischen, im Auftrag der Wehrmacht in Konzentrationslagern durchgeführten Unterdruck- und Unterkühlungsversuchen, die hunderte von Häftlingen das Leben kosteten, existierte im „Dritten Reich“ ein breites Feld an „normaler“ Wissenschaft, die methodisch und konzeptionell auch international an der Spitze stand. So entwickelten die Chemie- wie die Metallforschung zahlreiche Ersatzstoffe, die in erster Linie auf einheimischen Rohstoffen basierten. Darunter waren etwa Zink-Magnesium-Aluminium-Legierungen für den Flugzeugbau, die trotz extremer Belastungen bruchfest blieben und keinerlei Spannungskorrosionen zeigten. In der Agrarwissenschaft züchtete man schnell wachsende, frostresistente Nutzpflanzen sowie neue pflanzliche Rohstoffe. Das NS-Regime also war keineswegs grundsätzlich wissenschaftsfeindlich – konnte es nicht sein. Die Diktatur benötigte Wissenschaften, die auf der Höhe der Zeit waren, um moderne Kriege zu führen.

Allerdings sprudelten die Geldquellen für die Wissenschaft nicht von selbst. Verbindungen zur Politik, aber auch zur Industrie herzustellen und die dort vorhandenen Ressourcen für Forschungseinrichtungen zu mobilisieren, ist und war Aufgabe des Wissenschaftsmanagements. Nach der „Machtergreifung“ vervielfachte sich die schon während der Weimarer Republik große Zahl allein der staatlichen Geldgeber durch die Errichtung neuer Ministerien und die Berufung zahlreicher Sonderkommissare noch einmal. Gleichzeitig konkurrierten zahllose Forschungseinrichtungen um die vorhandenen Ressourcen. Diesem Konkurrenzkampf musste sich auch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) stellen, die Vorläuferorganisation der Max-Planck- Gesellschaft.

Anfangs wurde die KWG heftig angefeindet, weil sie überdurchschnittlich viele renommierte Wissenschaftler in ihren Reihen beschäftigte, die nach den NS-Rassegesetzen als „jüdisch“ klassifiziert wurden. Kurzzeitig standen Überlegungen im Raum, die KWG aufzulösen. Das bis 1933 erfolgreiche Wissenschaftsmanagement der KWG geriet in die Krise. Es gelang anfangs nicht, das große internationale Ansehen der Wissenschaftsorganisation und das Renommee herausragender Forscher wie Otto Hahn, Werner Heisenberg, Adolf Butenandt, Richard Kuhn und vieler anderer in klingende Münze zu verwandeln.

An mangelnder politischer Begeisterung lag dies nicht. So bejubelte der Chef der KWG-Generalverwaltung Friedrich Glum 1933 in einem Leitartikel der „Berliner Börsen Zeitung“ die „nationale Revolution“, die den „Durchbruch durch die feindliche Welt undeutschen Geistes“ begonnen habe. Nationalistische Euphorie nutzte in den ersten Jahren jedoch wenig. Glum wurde 1937 aus den Diensten der KWG entlassen, weil es ihm nicht gelungen war, einen Zugang zu den braunen Machthabern zu finden. Die Einnahmen der KWG erreichten 1936 gerade das Niveau des Krisenjahres 1931. Dies änderte sich 1937 abrupt. Seitdem schossen die Gesamteinnahmen der KWG sprunghaft in die Höhe, um jährlich zwanzig Prozent und mehr. Ende 1939 wurden zudem die meisten Kaiser-Wilhelm-Institute zu „kriegswichtigen Betrieben“ erklärt und konnten auf alle benötigten Ressourcen zugreifen; das wissenschaftliche Personal wurde „unabkömmlich“ gestellt.

Durch geschicktes Wissenschaftsmanagement gelang dem neuen Generalsekretär Ernst Telschow ab 1937 eine sehr erfolgreiche Mobilisierung materieller und personeller Ressourcen für die KWG. Im Unterschied zu Glum zog der neue Generalsekretär der KWG im Stillen die Fäden. Telschow verzichtete darauf, die Politik der Nationalsozialisten schulterklopfend zu kommentieren.

Vor allem aber reaktivierte Telschow das Politikprinzip „die KWG verhandelt mit sich selbst“, das die Wissenschaftsorganisation seit ihrer Gründung 1911 erfolgreich praktiziert hatte: Sie kooptierte zentrale wissenschaftspolitische Entscheidungsträger in ihre Führungsgremien. Wenn Vertreter der KWG dann mit staatlichen Entscheidungsträgern über finanzielle Grundsatzfragen sprachen, saßen sie oft Persönlichkeiten gegenüber, die der KWG qua Nebenamt verpflichtet waren.

Anschaulich wird diese Politik am Beispiel Friedrich Saemischs. Er war von 1924 bis 1938 Präsident des Reichsrechnunghofes sowie von 1924 bis 1934 Reichssparkommissar. Saemisch wurde nach seinem Aufstieg in den Senat der KWG aufgenommen und rasch zu einem einflussreiches Mitglied der Führungsspitze der Wissenschaftsorganisation. Das war pikant. Denn in seinen Regierungsämtern hatte er die staatlichen Etats genau zu prüfen und Kürzungsvorschläge zu machen. Als Mitglied des Führungszirkels der KWG sorgte er dagegen dafür, dass die Zuwendungen an die KWG selbst während der Krise noch recht großzügig flossen.

Ernst Telschow verhalf diesem Politikprinzip zu neuer Geltung, indem er den 1937 als Nachfolger Max Plancks zum KWG-Präsidenten gewählten Nobelpreisträger und IG-Farben-Gründer Carl Bosch veranlasste, neben zahlreichen weiteren wissenschaftspolitisch federführenden Funktionären der Diktatur mit Herbert Backe den „starken Mann“ des Reichsernährungsministeriums, mit Rudolf Mentzel die graue Eminenz des Reichsministeriums für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung und mit Eduard Milch die „rechte Hand“ Hermann Görings in die Führungsgremien aufzunehmen.

Noch 1988 schwärmte Adolf Butenandt, der zweite Präsident der MPG und Wegbegleiter Telschows seit 1936, in einem Nachruf von Telschows „Verwaltungsgeschick, seinem Anpassungsvermögen, seinem schnellen Erfassen selbst kompliziertester Problemlagen, seiner Zähigkeit bei der Verfolgung seiner Ziele“. Mit diesen Eigenschaften hatte Telschow die Basis gelegt für eine beispiellose materielle Erfolgsgeschichte der KWG. Aufgrund dieser Fähigkeiten war er nach dem Krieg Generalsekretär der MPG geblieben, bis 1960.

Genau in Telschows Fähigkeiten liegt aber auch die Gefahr. Denn sie sind jedem politischen System kompatibel. Wissenschaft und noch weit stärker das den Herrschenden ja viel nähere Wissenschaftsmanagement besitzen keine immanenten Mechanismen, die sie gegen eine barbarische Praxis immunisieren. Sie sind gegen die Indienstnahme durch autoritäre Regime nicht gewappnet und bedürfen der Kontrolle durch eine demokratische Gesellschaft, um gegen Anfechtungen wie die ab 1933 gefeit zu sein. Die Geschichte des Wissenschaftsmanagements der KWG während des „Dritten Reiches“ ist deshalb ein Lehrstück, dessen Bedeutung weit über die NS-Zeit hinausreicht.

Der Autor ist apl. Professor an der TU Berlin und Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. Von ihm erschien jetzt „Wissenschaftsmanagement im ‚Dritten Reich’. Die Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“ (Göttingen 2007).

Rüdiger Hachtmann

Zur Startseite