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Unterwegs. Helmut Hesse mit Ruth Wendland, einer Freundin, 1938 auf einer Besuchsdienstreise in Österreich-Ungarn. Sie bekamen dort den „Anschluss“ Österreichs mit allen Konsequenzen mit:<TH>politisch und kirchenpolitisch deprimierende Eindrücke.

© Sammlung M. Gailus

Nationalsozialismus: Ein Leben gegen die Nazis

Vergessener Widerstand: Wohl kein anderer deutscher Pfarrer sprach so mutig über den NS-Staat wie Helmut Hesse.

„Als Christen können wir es nicht mehr länger ertragen, dass die Kirche in Deutschland zu den Judenverfolgungen schweigt. Was uns dazu treibt, ist das einfache Gebot der Nächstenliebe. (...) Die Kirche hat jedem Antisemitismus in der Gemeinde zu widerstehen. Dem Staat gegenüber hat die Kirche die heilsgeschichtliche Bedeutung Israels zu bezeugen und jedem Versuch, das Judentum zu vernichten, Widerstand zu leisten. Jeder Nichtarier, ob Jude oder Christ, ist heute in Deutschland der unter die Mörder Gefallene.“
Wohl kein anderer deutscher Pfarrer sprach so mutig, so klar und zugleich öffentlich von der Kanzel wie der junge reformierte Theologe Helmut Hesse anlässlich eines Gottesdienstes am 6. Juni 1943 in Wuppertal-Elberfeld. Fragt man heute nach Helmut Hesse, so werden die meisten antworten: Ist mir nicht bekannt. Alle Welt kennt Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller oder Sophie Scholl – doch wer kennt Helmut Hesse? Zwei Tage nach seinen zitierten Predigtworten wurde der junge Hesse von der Gestapo verhaftet. Nach längerer Haft verstarb er am 24. November 1943 im Alter von 27 Jahren im KZ Dachau.

Als Augenzeuge erlebte er den "Anschluss" Österreichs

Helmut Hesse wurde im Kriegsjahr 1916 in Bremen geboren und wuchs als jüngster Sohn des renommierten reformierten Pfarrers Hermann Albert Hesse in Elberfeld auf. Wie seine drei Brüder studierte er Theologie und nahm bereits während des Studiums am Kirchenkampf teil. Eine wesentliche Prägung erfuhr er durch den Schweizer reformierten Theologen Karl Barth, bei dem er 1937/38 zwei Semester in Basel studierte. Im März 1938 unternahm er mit der befreundeten Berliner Pfarrerstochter Ruth Wendland, die ebenfalls bei Barth studierte, im Auftrag der Bekennenden Kirche (BK) eine Besuchsdienstreise nach Österreich und Ungarn. Die beiden Reisenden waren Augenzeugen des „Anschlusses“ Österreichs an Hitlers Deutsches Reich. Im Reisetagebuch hat Hesse die für ihn politisch wie kirchenpolitisch deprimierenden Eindrücke dieser Reise eindrücklich geschildert. Im Februar 1940 absolvierte Hesse die 1. Theologische Prüfung vor der Prüfungskommission der rheinischen BK. Das vom Rat der rheinischen BK mit dem (staatsnahen) Konsistorium in Düsseldorf abgeschlossene „Legalisierungsabkommen“, das künftig Prüfungen von BK-Pfarramtskandidaten beim Konsistorium vorsah, lehnte Helmut Hesse vehement ab. Er sah in diesem Kompromiss ein Abweichen vom Geist der Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem (Mai und Oktober 1934).

Mit der Bekennenden Kirche kam es zum Bruch

Tragischerweise vertiefte sich die Kluft zwischen dem Elberfelder Pfarrhaus Hesse und der rheinischen Bekennenden Kirche während der Jahre 1941 bis 1943 bis zum faktischen Bruch. Im Frühjahr 1943 kam es in der reformierten Gemeinde Elberfeld zu einem singulären Ereignis. Ein von der Leitung der BK nicht autorisiertes Kollegium prüfte den jungen Pfarramtskandidaten. Im anschließenden Gottesdienst wurde Helmut Hesse durch seinen Vater Hermann Albert Hesse „zum Diener am Wort in der nach Gottes Wort reformierten Kirche“ ordiniert. Nur für kurze Zeit amtierte der junge Pfarrer in Elberfeld. Gemeinsam mit seinem Vater leitete er am 23. Mai 1943 den Gottesdienst, sprach in seiner Predigt kritisch über das kompromisshafte Verhalten der BK und erwähnte in der Fürbitte namentlich inhaftierte Christen wie Martin Niemöller, Heinrich Grüber und die Breslauer Stadtvikarin Katharina Staritz. Eine Woche später versanken große Teile Wuppertal-Barmens bei nächtlichen Bomberangriffen in Schutt und Asche. Der eingangs erwähnte Gottesdienst vom 6. Juni stand im Zeichen dieser Katastrophe. Vater Hermann Albert Hesse sah das zerstörte Wuppertal „unter dem gewaltigen Gericht Gottes“. Wie schon in Predigten zuvor thematisierte sein Sohn wiederum die „Judenfrage“ und sprach darüber in ungewöhnlich offener Weise, wie dies wohl nirgends sonst während eines Gottesdienstes im „Dritten Reich“ geschah. Es war ein öffentlicher Aufruf zum Widerstand gegen die Ermordung der Juden. Hesse lehnte sich dabei an Formulierungen aus dem „Münchener Laienbrief“ an, den der Stuttgarter Bekenntnispfarrer Hermann Diem verfasst hatte. Der Gestapobericht vermerkt zum Abschluss, dass die etwa 150 Besucherinnen und Besucher an diesem Abend von den Ausführungen des Predigers sichtlich beeindruckt waren.

Ein Vergehen gegen das "Heimtückegesetz"

Zwei Tage später inhaftierte die Gestapo Vater und Sohn Hesse. Als Haftgrund nannte sie „staatsfeindliche Einstellung“ und wiederholtes öffentliches Gebet für die Juden. Nach längeren Vernehmungen fasste die Gestapo die Anklagepunkte gegen Helmut Hesse zusammen: Er habe in der Fürbitte die Namen inhaftierter Pfarrer verlesen, was verboten sei; er habe im Gebet gegen die Obrigkeit, also gegen die aktuelle NS-Regierung, gesprochen; schließlich habe er am 6. Juni in öffentlicher Rede in staatsabträglicher Weise über das Judenproblem gepredigt. Seine Stellungnahmen zur „Judenfrage“ seien Vergehen gegen Paragraf 2 des Heimtückegesetzes. Nach monatelanger Haft in Wuppertal wurden Vater und Sohn Hesse im November 1943 in das KZ Dachau überführt. Helmut Hesse, der unter chronischer Niereninsuffizienz litt, war durch lange Haftzeit und Entzug lebenswichtiger Medikamente stark geschwächt. Nach zehn Tagen verstarb er in der Krankenbaracke des KZ Dachau.

Helmut Hesse hatte vielfältige Verbindungen nach Berlin. Im Wintersemester 1938/39 studierte er an der (illegalen) Kirchlichen Hochschule der Kirchenopposition in Berlin. Spiritus Rector dieser Einrichtung der BK war der reformierte Spandauer Superintendent Martin Albertz, einer der konsequentesten Bekenntnistheologen der Reichshauptstadt. Die Beziehungen zwischen dem Elberfelder reformierten Pfarrhaus Hesse und Albertz waren überaus eng. Zugleich hatte Hesse Kontakte mit dem Pfarrhaus Walter Wendland an der Gethsemane-Gemeinde im Bezirk Prenzlauer Berg. Mit der Pfarrerstochter Ruth Wendland war er um 1938 enger befreundet, und auch darüber hinaus war er später häufig zu Gast im Hause Wendland, wie Tagebuchnotizen von Angelika Rutenborn (geb. Wendland) noch für die Kriegsjahre ausweisen. Es bestanden ferner Verbindungen zum Büro Pfarrer Grüber und zu Helmut Gollwitzer in Dahlem. Noch im Januar 1943 nahm Helmut Hesse an dem subversiven Treffen entschieden oppositioneller BK-Theologen im Pfarrhaus Wendland teil, bei dem Hilfsmaßnahmen für die verfolgten „Nichtarier“ beraten wurden.

Von der Bekennenden Kirche hatten sie keine große Solidarität zu erwarten

Helmut Hesses kurzes Leben zwischen zwei Weltkriegen war ein Leben gegen den vorherrschenden deutschen Mainstream der Epoche: gegen die völkische, antisemitische Weltanschauung der Nazis und ihre Zumutungen für bekennende Christen sowie gegen das herrschende totalitäre politische Regime. Im Unterschied zu großen Teilen des zeitgenössischen Protestantismus, die sich diesem zerstörerischen Epochentrend anschlossen, erkannte er früh, dass für das Christentum viel auf dem Spiel stand, dass es um seine Existenz ging. Hesse wandte sich gegen den verbreiteten völkisch-antisemitischen Protestantismus in Gestalt neuartiger Glaubensbewegungen, die sich Deutsche Christen nannten und die sich dem NS-Regime bereitwillig andienten. Schließlich fiel ihm, neben wenigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die schwierige Rolle einer Opposition in der Kirchenopposition (BK) zu. Entschieden wie nur wenige hielt er bis zuletzt an den Beschlüssen der BK-Synoden von Barmen und Dahlem fest und verweigerte Kompromisse mit gemäßigten Kirchenkreisen. Der Preis für diese Unbedingtheit war hoch. Gegen Ende der Kirchenkampfzeit waren er und das Pfarrhaus Hesse in Wuppertal auch unter den „Glaubensbrüdern“ der BK isoliert. Selbst von dort hatten Vater und Sohn Hesse keine große Solidarität mehr zu erwarten, als sie 1943 inhaftiert wurden.

Wenig gewürdigt

Helmut Hesse ist in der Nachkriegszeit wenig gewürdigt worden. Das gehörte offenbar zum Habitus der Nachkriegskirchen und geschah ähnlich bei etlichen anderen Personen des christlichen Widerstands wie im Fall der Berliner Historikerin Elisabeth Schmitz oder des "nichtarischen" Juristen und bekennenden Christen Friedrich Weißler. Anlässlich Hesses 75. Todestag im November 2018 gab es erfreulicherweise einen Gottesdienst in der Gedenkstätte Dachau, der den Opfern der Novemberpogrome 1938 gewidmet war und in dessen Verlauf der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm auch an das Schicksal des evangelischen Märtyrers Hesse erinnerte. Auch in Wuppertal fand am 24. November 2018 eine würdige kirchliche Gedenkfeier in der Elberfelder Friedhofskirche statt, genau an jener Stätte, wo sein Vater Hermann Albert Hesse viele Jahre gepredigt hatte. Die Berliner Kirche sah sich bedauerlicherweise nicht imstande, anlässlich des 75. Todestags von Helmut Hesse, dessen kirchenpolitisches Wirken vielfach mit Berliner Stellen verbunden war, mit einer eigenen Veranstaltung an diesen singulären „protestierenden Protestanten“ zu erinnern. - Der Autor ist Historiker. Zum Thema ist von ihm gerade das Buch erschienen: Gegen den Mainstream der Hitlerzeit. Der Wuppertaler Theologe Helmut Hesse (1916-1943), Bremen/Wuppertal (De Noantri) 2019, 80 Seiten.

Manfred Gailus

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