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Kolonialist lässt sich von Afrikanern in Hängematte tragen.

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Nachwehen des Kolonialismus: Gewalt und Ausbeutung bis in die Gegenwart

Tradierter Rassismus: Die Politikwissenschaftlerin Ina Kerner im Interview über koloniale Spätfolgen und die historische Verantwortung der Europäer.

Der Begriff Postkolonialismus bedeutet, dass es koloniale Effekte gibt, die bis in die Gegenwart reichen. Wo zeigt sich das?

Das zeigt sich an einer großen Bandbreite von Phänomenen. An der Weltwirtschaftsordnung und den zum Teil buchstäblich mit dem Lineal gezogenen Grenzen afrikanischer Staaten. Zudem an der politischen, sozialen und kulturellen Konstellation und Lage vieler ehemaliger Kolonien. Natürlich auch in ehemaligen Kolonialstaaten und damit nicht zuletzt bei uns. Hier reichen die Effekte von rassistischen und orientalistischen Denkmustern, Institutionen und Bildern bis hin zu Straßen, die nach einstigen Kolonialhelden benannt sind. Auch die weitgehende Bagatellisierung des Kolonialismus im Schulunterricht würde ich dazuzählen.

Können Sie ein Beispiel geben, wie strukturelle Probleme in Ländern des globalen Südens mit dem (Post-)Kolonialismus zusammenhängen?

Folgt man dem Politiktheoretiker Achille Mbembe, war der europäische Kolonialismus in Afrika derart gewaltförmig, dass er dort gleichsam eine „politische Kultur der Gewalt“ hinterlassen hat. Der Politologe Mahmood Mamdani vertritt zudem die These, dass der britische Kolonialismus im südlichen Afrika im Zuge seines Regierungsmodells der indirekten Herrschaft einheimische Würdenträger auf lokaler Ebene mit despotischen Machtbefugnissen ausstattete und damit zur Aushebelung vormaliger Modelle der Gewaltenteilung beitrug. Mamdani geht davon aus, dass die Spätfolgen dieses Eingriffs bis heute nachwirken.

Was sind typisch koloniale Wahrnehmungsschemata und Identitätskonstruktionen, von denen westliche Gesellschaften bis heute geprägt sind?

Eurozentrismus und Rassismus. Die Vorstellung, Europa beziehungsweise der Westen sei die Speerspitze der globalen Entwicklung und dass man von selbst dorthin gekommen sei, wo man heute steht – und eben nicht auch durch Ausbeutung von Kolonien und mithilfe diverser Güter und Techniken, die von dort kamen. Von Gold und Silber über die Kartoffel und den Rohrzucker bis hin zu Webtechniken für Baumwolle. Ferner ist hier die Idee zu nennen, wir seien grundsätzlich überlegen. Und die Ausblendung des Umstandes, dass der europäische Kolonialismus in weiten Teilen etwas ganz anderes war als eine große Zivilisierungsmission oder ein Strategiespiel in der Sonne: nämlich systematische Enteignung, Plünderung, Willkürherrschaft, Ausbeutung und Gewalt, bis hin zu Sklaverei und Ethnozid.

In Deutschland wurde über lange Zeit vermittelt, der Kolonialismus sei die alleinige historische Erbschuld von Ländern wie Frankreich, Belgien oder England. Gibt es inzwischen erinnerungspolitische Fortschritte?

Ich würde sagen: ja, zumindest kleine. Allerdings vor allem im zivilgesellschaftlichen Bereich, etwa im Kontext kritischer lokaler Initiativen wie „Berlin postkolonial“, die es auch in vielen anderen deutschen Städten gibt. Zudem im Kulturbetrieb und in den Feuilletons. Und in den kritischen Zweigen der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die aktuellen Debatten über die Provenienz und mögliche Restitution von Objekten in ethnologischen Sammlungen gehören dazu. Auch die Frage, was in ethnologischen Museen auf welche Art gezeigt wird und gezeigt werden sollte. In Berlin nicht zuletzt die Diskussion über das Humboldt Forum. In diversen Städten gibt es Initiativen zur Straßenumbenennung. Und die Bundespolitik muss sich seit einigen Jahren zu Reparationsforderungen für Kolonialverbrechen verhalten.

Die Politikwissenschaftlerin Ina Kerner.
Ina Kerner ist Professorin für Dynamiken der Globalisierung an der Universität Koblenz-Landau.

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Seit wann und in welcher Form gibt es „Postkoloniale Studien“ in Deutschland? Und sind entsprechende Perspektiven an deutschen Unis inzwischen fest verankert?

Das ist je nach Disziplin unterschiedlich. Richtig etabliert sind Postkoloniale Studien nur in der Anglistik, und zwar seit etwa 20 Jahren – die ersten Professuren gab es dort bereits in den 1980er Jahren, und dann wurde systematisch Verbandsarbeit geleistet. Es gibt einen Fachverband namens „Gesellschaft für Anglophone Postkoloniale Studien“, abgekürzt GAPS, der auch Englischlehrerinnen und -lehrer organisiert und sich mit Lehrplänen und dem didaktischen Material für den Schulunterricht auseinandersetzt. In den Sozialwissenschaften ist die Lage wesentlich schlechter. In der Politikwissenschaft und in der Soziologie gibt es ganz wenige Professuren oder andere entfristete Stellen mit einer explizit postkolonialen Ausrichtung – und jeweils kaum eine Handvoll fest, das heißt auf Lebenszeit beschäftige Personen, die sich schwerpunktmäßig mit postkolonialen Fragestellungen beschäftigen. Beim sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchs besteht ein größeres Interesse, aber leider auch unsichere Arbeitsperspektiven.

Auf welchen Feldern problematisieren postkoloniale Studien die eurozentrische Ausrichtung der akademischen Wissensproduktion?

In den unterschiedlichsten Bereichen. Beispiele sind die Kanonbildung in der Literaturwissenschaft, eurozentrische und rassistische Denkmuster in diversen Kerntexten der politischen Ideengeschichte, der geschichtswissenschaftliche Umgang mit dem Kolonialismus, aber auch die Entwicklungspolitik, die internationalen Beziehungen und die Wirtschaft.

Gab es und gibt es gegen die Implementierung postkolonialer Studien an deutschen Unis aus der Wissenschaftswelt auch Widerstände?

In den Sozialwissenschaften wurden postkoloniale Perspektiven bis vor wenigen Jahren oftmals für nicht besonders relevant gehalten. Oder sie wurden – dies vor allem von materialistisch argumentierenden Linken – als postmoderne Ansätze abgetan, die an den wirklichen Problemen vorbeigingen. Als ich selbst vor 20 Jahren als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Politischen Theorie am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin meine erste Lehrveranstaltung zum Thema „Postkoloniale Kritik“ anbieten wollte, sagten die Kolleginnen und Kollegen, das sei „zu exotisch“ und außerhalb des Kanons, auf den man sich ein paar Jahre vorher geeinigt hatte. Das hat sich inzwischen glücklicherweise geändert, auch an diversen anderen sozialwissenschaftlichen Instituten.

Die postkolonialen Studien haben über die Erforschung von Langzeitwirkungen des Kolonialismus hinaus auch eine politische Agenda. Was ist ihr „kritisches Projekt“?

Zunächst einmal besteht es darin, die landläufige, tendenziell positive oder zumindest verharmlosende Sicht auf den europäischen Kolonialismus zu verändern und ein kritisches Bewusstsein für seine Spätfolgen zu schaffen. Ferner geht es darum, nicht-koloniale Denkmuster, Verhaltensweisen, Repräsentationen und Institutionen zu entwickeln und zu stärken.

Von der Literaturwissenschaftlerin Anne McClintock stammt die These, dass postkoloniale Theorien durch eine Überbetonung des europäischen Kolonialismus im weltgeschichtlichen Kontext Gefahr laufen, jene eurozentrischen Sichtweisen zu reproduzieren, die sie eigentlich abbauen wollen. Wie umgehen mit diesem Argument?

Zum einen durch genaue empirische Analysen und theoretische Reflexionen, die Aufschluss darüber geben, wie weit die kolonialen Ursachen und Pfadabhängigkeiten tatsächlich reichen – etwa bezogen auf Probleme wie Armut, starke soziale Ungleichheit, Autoritarismus oder mangelnde Rechtsstaatlichkeit in ehemaligen Kolonien. McClintock hat ihre Kritik im Übrigen nicht auf kritische Auseinandersetzungen mit kolonialen Hinterlassenschaften in Europa selbst bezogen. Dass eine Kritik des eigenen Kontextes immer etwas Selbstreferenzielles hat, ist klar. Postkoloniale Theorien problematisieren vor diesem Hintergrund die unreflektierten Aspekte und die Machteffekte des Eurozentrismus. Denn dieser hat seit jeher dazu gedient, globale Macht- und Herrschaftsansprüche zu legitimieren.

Wie lässt sich den postkolonialen Sicht- und Handlungsweisen im globalen Norden entgegenwirken? Und wie sähe eine post-postkoloniale Welt aus?

Entgegenwirken lässt sich kolonialen Relikten in Sicht- und Handlungsweisen im globalen Norden letztlich durch Aufklärung und durch die Stärkung kolonialismuskritischer Perspektiven und Initiativen, von der Schulbildung über die Medien bin hin zur Politik. Da bei uns Rassismus zu den wirkmächtigen Relikten kolonialer Denkmuster zählt, halte ich auch rassismuskritische Anstrengungen auf breiter Ebene für zentral. Dass wir in den kommenden Jahrzehnten eine Welt erleben können, in der alle nennenswerten negativen Spätfolgen des europäischen Kolonialismus beseitigt sind, wage ich zu bezweifeln. Ein anzustrebendes Fernziel bleibt eine solche Welt aber dennoch.

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