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Wolfgang Edelstein (1929 bis 2020) war Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

© David Ausserhofer

Nachruf auf Wolfgang Edelstein: Warum er so sehr fehlt

Der ehemalige Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin  Wolfgang Edelstein hatte sich zeitlebens dafür eingesetzt, Demokratie im Klassenzimmer zu wagen.

In diesen bildungspolitisch ernüchternden Monaten der Pandemie vermissen wir einen Menschen ganz besonders: Wolfgang Edelstein (1929 bis 2020). Er war Vorbild für viele. Er war Vordenker einer inklusiven und demokratischen Bildung. Und er war vor allem ein Gelehrter mit dem Mut, Wissenschaft und politisches Handeln intensiv miteinander zu verschränken.

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Dieser Anspruch durchzog Wolfgang Edelsteins gesamtes Wirken. In der Schule: Von 1954 bis 1962 war er erst Lehrer, dann Studienleiter an der Odenwaldschule. Die späteren Missstände an der Schule schockierten ihn zutiefst. Gleichwohl bezeichnete er diese frühen Jahre als die wichtigste Lehrzeit seines Lebens. In der Politikberatung: Von 1966 bis 1984 war Wolfgang Chefberater des isländischen Kultusministeriums. Das Land prägte ihn stark, seitdem es ihn und seine Familie nach der Flucht aus Nazideutschland aufgenommen hatte. Und in der Wissenschaft: Ab 1963 arbeitete er am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, dessen Direktor er 1981 wurde.

Wirken in die Gesellschaft hinein

Ein „Entweder-Oder“ war ihm zeitlebens fremd, von einem Spagat zwischen Wissen und Praxis sprach er nie. Klar: International ausgerichtete, von Kolleginnen und Kollegen begutachtete und für die Scientific Community geschriebene Artikel und Bücher waren ihm wichtig, und er verfasste davon viele. Aber das Wirken in die Gesellschaft hinein, in die Schulen, für die Schülerinnen und Schüler, und damit für die Gesellschaft von morgen, war ihm ebenso wichtig. Selbstverständlichkeit und wissenschaftlicher Auftrag. Ruf und Berufung. Gerüttelt hat er an althergebrachten Maßstäben; viele von uns hat er auch wachgerüttelt: „Habt Mut. Denkt out of the box. Zählt nicht nur Zitationen, sie ändern die Gesellschaft nicht.“

Vor einem Jahr ist Wolfgang Edelstein gestorben. Ruhig und mit sich im Reinen. Leise fast und bescheiden. So wie er sein ganzes Leben über war. Ein Menschenfreund, kein larmoyanter Leisetreter, kein flamboyanter Marktschreier. Er wurde 90 Jahre alt. Ich vermisse ihn. Wie wohl hätte er diese Monate vermessen? Wie hätte er sie kommentiert? Was hätte ihn empört?

Seine Ansätze und sein Denken leben fort 

Ich kann ihn nicht mehr fragen. Seine Ideen, seine Ansätze und sein Denken leben aber fort, sie sind relevanter denn je. Und ich habe das Glück, sie in meiner unmittelbaren Nähe zu wissen. Sein Sohn Benjamin arbeitet in meiner Forschungsgruppe. Gestern habe ich ihm geschrieben: „Was wohl hätte Wolfgang gesagt in und zu diesen Tagen?“ Seine Antwort kam postwendend: „Ganz sicher hätte es ihn empört, dass die Bildungsverwaltungen nichts Ernsthaftes unternommen haben, um die besondere Härte abzufedern, mit der die Schulschließungen arme und sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche treffen. Allerdings hätte es ihn auch nicht überrascht, bestätigt es doch nur, was er immer schon kritisierte, nämlich dass in der deutschen Schule Bedürfnisgerechtigkeit noch immer ein Fremdwort ist.“

Eine Schule der Demokratie sei kein Luxus

Ich sehe das wie Benjamin: Seinen Vater hätte eine weitere Sorge umgetrieben. In der Pandemie wird fast ausschließlich auf die fachlichen Defizite durch die Schulschließungen geblickt. Dabei bleibt auch alles andere, was die Schule der jungen Generation für ihren Lebensweg mitgibt, auf der Strecke.

Denken wir an das Miteinander in der Klassengemeinschaft, an das Austesten der eigenen Talente mit anderen, an das Erproben von Verantwortung, an das Erlernen demokratischer Regeln. Und hier berühren wir einen Kern des Edelsteinschen Denkens: Für ihn waren eine demokratische Schule, eine Schule der Demokratie kein Luxus. Keine Nebenaufgabe, sondern das Kerngeschäft des Unterrichts. In diesen Tagen gibt es keinen, der uns diese wichtigen Worte in dieser Klarheit zuruft. Wolfgang Edelsteins Stimme fehlt.

Die Autorin ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

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